Neue Betrachtungen der Debatte um rituelle Gewalt
Salter, M. (2018). Out of the Shadows: Re-envisioning the Debate on Ritual Abuse. n R. Noblitt & P. Perskin Noblitt (Eds.), Ritual Abuse in the Twenty-first Century: Psychological, Forensic, Social, and Political Considerations (pp. 155-175).
Zusammenfassung
In der Forschungsliteratur sowie unter Fachpersonen fehlt aktuell ein umfassendes Verständnis der Dynamiken bei sexualisierter Gewalt durch mehrere Tatpersonen in der westlichen Welt. Angesichts dieser Lücke im Diskurs haben einige Betroffene sowie helfende Personen den Begriff „rituelle Gewalt“ geprägt, um ihre Erfahrungen zu beschreiben. Ursprünglich bezog sich jener Begriff und sein Diskurs auf ritualisierte Formen der Gewalt durch mehrere Tatpersonen. Mittlerweile thematisiert „rituelle Gewalt“ diverse Formen sexueller Gewalt, die in der Mainstream-Debatte um sexualisierte Gewalt nicht vorkommen.
Kommerzielle Formen sexualisierter Gewalt wurden in den Erfahrungsberichten zu ritueller Gewalt von Betroffenen und Helfenden tendenziell eher wenig thematisiert. Dies deckt sich mit dem allgemeinen Diskurs zu sexueller Ausbeutung und Menschenhandel in der westlichen Welt: Der Westen gilt kolonialhistorisch als „zivilisiert“, sicher und frei von systemischer Menschenrechtsverletzung. Durch die Verortung sexueller Ausbeutung von Kindern bei Kulten und perversen Religiösen schließt sich der Diskurs um rituelle Gewalt einer Verdrängung an: Ritueller sexueller Missbrauch von Kindern wird Minderheiten und Entwicklungsländern zugeschrieben.
Der Menschenhandel mit und die sexuelle Ausbeutung von Kindern werden zunehmend zu globalen Problemen. International ist anerkannt, dass einige Formen sexualisierter Gewalt durch Gruppen von Menschenhändler:innen ritueller Natur sind. Damit haben sich westliche Gesetzgebende und Vollzugsbehörden noch zu befassen. Die Herausforderung für jene, die mit Betroffenen arbeiten, ist es heutzutage, den vorherrschenden Diskurs zu überwinden, die Beweisgrundlage zu erweitern und auf ein fachlich übergreifendes, wissenschaftlich fundiertes Verständnis von Sklaverei, Menschenhandel und rituellen Formen sexualisierter Gewalt im Westen hinzuwirken.
Rituelle Gewalt als Diskurs
Seit der Entstehung des Begriffs in den 1980er-Jahren hat sich um rituelle Gewalt ein Diskurs mit eigenem Vokabular entwickelt. Betroffen von ritueller Gewalt vereint eine von organisierter sexualisierter Gewalt gezeichnete Lebensgeschichte sowie eine Reihe trauma-assoziierter und dissoziativer (Dissoziative Störungen: Psychisches Störungscluster, gekennzeichnet durch Desorganisation der Prozesse des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Emotion, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation, der motorischen Kontrolle und des Verhaltens; Brand et al., 2010) Störungen (Young et al., 1991; Bloom, 1994; Leavitt, 1994; Jonker & Jonker-Bakker, 1997). Jedoch gibt es keine feste Definition von ritueller Gewalt: Der Begriff wird von betroffenen und helfenden Personen verwendet, um sowohl einen Gewaltakt als auch eine Kategorie sexualisierter Gewalt zu beschreiben. Als Akt bezieht sich „rituelle Gewalt“ auf sexualisierte Gewalt, die innerhalb eines Rituals oder einer Zeremonie geschieht (McFadyen et al., 1993). In den Erzählungen betroffener Personen hängt rituelle Gewalt oft mit weiteren wenig anerkannten Gewaltformen zusammen, wie etwa Gewalt außerhalb der Familie, die Produktion von sogenannten Missbrauchsabbildungen, der Prostitution von Kindern oder pädophilem Sadomasochismus (Sadomasochismus: Sexuelle Neigung/Praktik, bei welcher das Zufügen bzw. das Erleben von Schmerzen dem Lustgewinn oder der Befriedigung dient) (Driscoll & Wright, 1991; Hudson, 1991; Smith, 1993). Über die Zeit hinweg wurde der Begriff „rituelle Gewalt“ im Sinne einer Kategorie für jegliche Erfahrungen sadistischer und organisierter sexualisierter Gewalt verwendet, die in den Mainstream-Debatten um sexualisierte Gewalt nicht vorkamen. Ein Großteil dieser Debatte hat sich auf die Diskussion um dessen Existenz und den „Wahrheitsgehalt“ der Erfahrungsberichte Betroffener beschränkt. Die Erzählungen von „moralischer Panik“ und „false memories“ (dt.: falsche Erinnerungen) fassen die Ansicht von Skeptiker:innen zusammen, wonach die Betroffenenberichte nicht real, sondern lediglich durch soziale Prozesse, etwa eine Massenhysterie oder suggestiver Psychotherapie und kulturelle Bilder z.B. von Satanismus, konstruiert seien (z.B. Victor, 1993; Guilliatt, 1996; Ofshe & Watters, 1996; Showalter, 1997; Nathan & Snedeker, 2001). Diese Positionen waren in der medialen Berichterstattung der 1990er- Jahre überaus populär. Trotz wirkungsvoller Kritik beeinflussen sie in gewissem Maße immer noch die öffentliche und wissenschaftliche Debatte um sexualisierte Gewalt.
Wohingegen die Erzählungen von Skeptiker:innen bereits genau betrachtet wurden, existieren bis dato nur wenige Überlegungen zur Konstruktion des Diskurses um rituelle Gewalt vonseiten der betroffenen und helfenden Personen. Jene haben, im Gegensatz zu Skeptiker:innen, die Berichte Betroffener seither als wirklichkeitsgetreue Wiedergaben betrachtet, die von sozialem und kulturellem Kontext unbeeinflusst sind. Jedoch zeigen Schilderungen Betroffener auf, wie einzelne Aspekte der Gewalt, die unerklärbar scheinen, erst durch das Label des Rituellen einen Sinn ergeben, wie Hudson (1994, S. 74) schildert:
„Es wurde deutlich, dass weder ich noch die gesammelten Expert:innen mehrerer lokaler Untersuchungsbehörden Vorerfahrungen mit dieser speziellen Art des Missbrauchs auf mehreren Ebenen, durch mehrere Tatpersonen, an mehreren Betroffenen hatten. Zum Beispiel verstanden wir die Verhaltensweisen der Tatpersonen, aber nicht deren Motivation. Sexuell pervers – Ja. Kinderpornografie – Ja. Sadismus – Ja. Aber warum? Schlussendlich sagte ein Elternteil: ‚Das klingt wie Satanismus.‘ Ich fragte: ‚Was ist das?‘“
Das Zitat zeigt auf, wie Praktizierende, die mit dieser Gewaltform konfrontiert werden, oft auf die bestehende Literatur zu ritueller Gewalt zurückgreifen, um Erklärungslücken zu füllen. Das Rituelle, das vorher den unverständlichsten Aspekt der Schilderungen darstellte, wird dadurch zum primären, definierenden Merkmal, welches das Verständnis der Erfahrungsberichte und den Diskurs um rituelle Gewalt prägt. Diese Betonung ritueller Formen der organisierten Gewalt und die konsequente Benennung der jeweiligen Tatpersonengruppe als „Kult“ sind problematisch, da dies andeutet, perverse religiöse Verehrung allein sei das ultimative Ziel der Tatpersonen. Allerdings bezieht sich die erlebte Gewalt in Berichten nur äußerst selten hauptsächlich auf das Rituell-Sexuelle, und wenn dem so ist, dann scheinen die Glaubenssysteme der Tatpersonengruppe eher künstlich und für die Gruppe eher spezifisch als allgemein dogmatisch und systematisch (Kent, 1993b, 1993a). Das häufige Vorkommen nicht-ritueller Gewalt außerhalb der Familie und von Ausbeutung, Prostitution und Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen sprechen weiter gegen rein religiöse Motive der Tatpersonen (Finkelhor & Williams, 1988; Bybee & Mobrey, 1993; Jonker & Jonker- Bakker, 1997). In den Berichten Betroffener ist der/die Haupttatperson meist ein Elternteil oder stammt aus dem Verwandtenkreis (Driscoll & Wright, 1991; Smith, 1993). Die Gewalt findet innerhalb sowie außerhalb der Familie, in kommerziellen sowie in rituellen Kontexten statt (Lorena & Levy, 1998). Im Diskurs um rituelle Gewalt ist „Kult“ ein Überbegriff für all diese unterschiedlichen Kontexte; „Kultmitglied“ beschreibt hingegen alle Tatpersonen, egal ob sie Teil der Kernfamilie, Teil der Tatpersonengruppe oder zahlende Kund:innen dieser Gruppe sind. Nicht-rituelle Gewalterfahrungen werden hierbei weitgehend außer Acht gelassen und alle Tatpersonen scheinen religiös motiviert. Demnach scheinen im Diskurs alle rituellen Tatpersonengruppen einheitlich. Die verfügbaren Daten zeichnen jedoch kein solches Bild.
Der Diskurs um rituelle Gewalt hat sich weiterhin nur auf Erklärungen über die Funktion des Rituellen beschränkt: Rituale dienten demzufolge entweder der Aufrechterhaltung eines perversen Glaubenssystems (Core & Harrison, 1991; Ryder, 1992; Smith, 1993; Boyd, 1996) oder der Kontrolle über die Kinder (Hudson, 1991; McFadyen et al., 1993; Pooley & Wood, 1994). Beide Ansichten setzen voraus, dass sich die Tatpersonen ihrer eigenen Beweggründe und dem vollen Ausmaß der Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst sind. Forschungsergebnisse sprechen jedoch eher für das Gegenteil, z.B. für eine verminderte Empathiefähigkeit der Tatpersonen (Abel et al., 1989; Blumenthal et al., 1999; McGrath et al., 2004). Weiterhin berichten Betroffene häufig von paraphilen (Paraphilie: Von der gesellschaftlichen Norm abweichende sexuelle Neigung) Elementen, was die Ansicht stützt, dass rituelle Gewalt nicht unbedingt „religiös“ ist, sondern eher mit sadistischem Lustgewinn und sado-sexuellem Experimentieren zusammenhängt (Lanning, 1992). Der Bericht einer Betroffenen (Bulte & de Conick, 1998) schildert den Gefallen der Tatpersonen an der Grenzüberschreitung durch illegale sexuelle Praktiken:
„Was ihnen wichtig war, war Sex, Macht, Erfahrung. Dinge zu tun, die sie niemals mit ihren eigenen Frauen ausprobiert hätten. Unter ihnen waren ein paar echte Sadisten.“
Weiterhin beschreibt die Betroffene das sie Tatpersonen-Netzwerk: Enge Familienmitglieder, die für ihre sexuelle Ausbeutung verantwortlich waren, Menschenhändler:innen, die die organisierte Gewalt vermittelten, und ein sado-sexuelles Klientel, welches „die Macht über Schmerz, Leben und Tod zu entscheiden“ als lustvoll empfand (Bulte & Conick, 1998). Das Rituelle dient also nicht dem Selbstzweck oder dem Ausdruck der Tatpersonen. Der Bericht zeigt weiterhin auf, wie ein komplexes kriminelles Netzwerk in entwickelten Ländern entstehen und lange aufrechterhalten werden kann, wie auf diese Weise Menschenhandel, Prostitution und die Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen von Kindern ermöglicht werden und wie dieser Handel in großen Teilen auf ausbeutenden Elternteilen als Mittatpersonen beruht. Im Gegensatz dazu schützt der Diskurs um rituelle Gewalt kulturelle Bilder von Familie und Gesellschaft, indem Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung auf „Kulte“ und deren perverse Religiosität geschoben werden. In diesem Sinne ist es auch nicht überraschend, dass kein westliches Land bisher ganzheitlich auf die Probleme reagiert hat, auf welche die Lebensgeschichten Betroffener hinweisen. Diese Tatenlosigkeit begründen Betroffene und ihre Fürsprecher:innen durch das diskreditierende Wirken von Skeptiker:innen und die gesellschaftliche Ignoranz. Der Autor dieses Artikels macht jedoch die psychischen und sozialen Dynamiken des Diskurses um rituelle Gewalt dafür verantwortlich, da sie individuelles und kollektives Leugnen dieser Gewaltform in der westlichen Welt verstärkten.
Die Verdrängung sexueller Ausbeutung
Das beschriebene wiederkehrende Leugnen spiegelt sich allgemein in den Debatten um sexuellen Kindesmissbrauch und Menschenhandel mit Kindern wider. Stereotyp gilt der:die Pädophile als verbohrt, abnormal, homosexuell. Er:Sie missbrauche eher mehrere Kinder und teile diese auch mit anderen Tatpersonen (Willis, 1993). Im Gegensatz dazu werden Tatpersonen teils auch als „Zurückgebliebene“ gesehen, deren Vergehen weniger häufig und schwerwiegend „im Kontext normaler sexueller Präferenzen“ seien (Howells, 1981). Hieraus wird eine klare Unterscheidung im Diskurs zwischen sexualisierter Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie, sowie durch homo- versus heterosexuelle Tatpersonen deutlich (Groth & Birnbaum, 1979). Diese Betrachtung stellt ein Problem dar: Wenn strafrechtliche Behören sexuellen Kindesmissbrauch nur unter dem Blickwinkel psychischer Störungen betrachten, dann werden andere der organisierten Gewalt zugrundeliegende Faktoren, wie etwa finanzieller Profit, soziale Bindungen und Kontrollausübung innerhalb der Familie, unsichtbar gemacht. Sich nur auf pädophile, homosexuelle, männliche Tatpersonen außerhalb der Familie zu fokussieren, umgeht gesellschaftlich unangenehme Fragen zu sexualisierter Gewalt innerhalb der Familie und zur Häufigkeit von auf Kinder bezogenen, sexuellen Neigungen in der Gesellschaft. Zahlen zur Verbreitung sogenannter Kinderpornografie und Studien an hierzu legen nahe, dass diese Neigungen relativ häufig sind (z.B. Crepault & Couture, 1980; Briere, 1989; Hall et al., 1995; National Center for Missing and Exploited Children, 2003). Es ist also davon auszugehen, dass männliche Tatpersonen nicht nur aktive Konsumenten eines sexuellen Handels mit Kindern sind, sondern dass es dahinterstehende profitorientierte, organisierte Netzwerke gibt, die jene Interessen bedienen.
In der westlichen Welt wurde organisierte Gewalt, Prostitution und sexuelle Ausbeutung von Kindern bislang nur wenig untersucht. Dieser Mangel an Information und Konsens kann auch darauf zurückgeführt werden, dass es an einem einheitlichen Vokabular zur Beschreibung fehlt: Tatpersonengruppen werden z.B. als „Sexringe“ (Burgess et al., 1984), „poly-inzestuöse Familien“ (Faller, 1991), „trauma-organisierte Systeme“ (Bentovim, 1992) usw. bezeichnet. Jeder dieser Begriffe stellt nur bestimmte Aspekte heraus und vernachlässigt dabei die komplexen Verbindungen bei sexualisierter Gewalt durch Tatpersonengruppen. Über die Natur jener Gruppen sowie die Erfahrungen von betroffenen Kindern ist nur wenig bekannt. Was wir wissen, stammt hauptsächlich aus Befragungen behandelnder Fachpersonen oder aus klinischen Symptomberichten weniger Betroffener. Selten wurden Betroffene offen befragt, um die komplexen Dynamiken bei organisierter Gewalt und das Innenleben der Tatpersonengruppen zu ergründen.
Aus jenem Mangel an fundierten Daten heraus gründete die australische Regierung 1996 eine Pädophilie-Kommission, die ein spekulatives Modell zu „organisierter Pädophilie“ entwickelte. Sexualisierte Gewalt innerhalb und außerhalb von Familien wurde strikt voneinander getrennt; der Fokus der Untersuchungen lag hauptsächlich auf homosexuellen männlichen Tatpersonen, die männliche Kinder missbrauchten (Cossins, 1999), obwohl der Kommission auch andere Fälle, z.B. mit weiblichen Betroffenen, bekannt waren. Man war zu jener Zeit gemeinhin überzeugt, dass sexualisierte Gewalt innerhalb der Familie weniger aggressiv sei und relativ harmlose Sexualakte umfasse (Stermac et al., 1989). Sadistische sexualisierte Gewalt passte nicht in jenes Bild von Elternschaft, Familie und der Gesellschaft im Großen und Ganzen, sodass dahingehende Berichte abgewiesen wurden. Generell besteht bei politischen Entscheidungsträgern und Strafverfolgungsbehörden im Westen eine mangelnde Bereitschaft, Formen der sexualisierten Gewalt in Betracht zu ziehen, die ihre grundlegenden Annahmen über die Beschaffenheit und Berechenbarkeit ihrer sozialen Welt infrage stellen.
Berichte über sexualisierte Gewalt durch mehrere Tatpersonen wirken emotional wie eine Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit – eine Bedrohung, die im westlichen Denken in einem Gegensatz zur Ordnung und Sicherheit entwickelter Staaten steht und die deshalb in den Ländern der Dritten Welt verortet wird. Diese Unterscheidung wird durch Berichte über organisierte und rituelle Gewalt herausgefordert, die jene Bedrohung in unseren durch Werte geregelten Räumen des Alltags, wie in der Familie oder in Kinderbetreuungsstätten, ansiedeln. Dies verdeutlicht sich in der Strafverfolgung und der medialen Berichterstattung, wo mit ritueller Gewalt je nach ethnischem Hintergrund der Tatpersonen deutlich unterschiedlich umgegangen wird. Auf Fälle ritueller Gewalt durch indigene Tatpersonengruppen in Australien und in afrikanisch-migrantischen Communities in Großbritannien reagierten Behörden und Medien schnell und umfassend (z.B. Jones, 2006; Khadem, 2006; Clayton, 2004; Vallely 2005). Bei sexualisierter Gewalt durch Gruppen weißer ritueller Tatpersonen in jenen Regionen war dies jedoch nicht der Fall (z.B. Brindle, 1990; Shaw, 1993; Oberhardt & Keim, 2004). Diese Unterscheidung setzt sich international fort, indem beispielsweise die UN „den Missbrauch einiger ritueller Praktiken zur Einschüchterung von weiblichen und kindlichen Opfern des Menschenhandels“ zur Forschungspriorität erklärte (Committee of Human Rights, 2002) und auch andere internationale Organisationen Verbindungen zwischen ritueller Gewalt und Menschenhandel in Entwicklungsländern herstellten (Beddoe, 2005; UN Children’s Fund, 2005; Amnesty International UK, 2006). Allein die International Organisation of Migration (IOM, 2001) beschreibt rituelle Gewalt auch in westlichen Ländern. Diese Unterscheidung zwischen westlichen und Entwicklungsländern könnte auf die tiefgreifende Fokussierung auf die westlichen kulturellen Werte zurückzuführen sein: Rituelle und sadistische Formen der Gewalt werden so auf rassistische Weise als kulturell „andersartig“ empfunden.
Auf verschiedenen Ebenen wurde die Problematik organisierter und ritueller Gewalt auf homosexuelle Männer, schwarze Communities und Entwicklungsländer verschoben. Hierin verbergen sich tiefverwurzelte homophobe und rassistische Vorurteile. Der Diskurs um rituelle Gewalt macht sich in dieser Verschiebung mitschuldig, indem die Rolle von Kulten und perverser Religiosität überbetont und die der vielschichtigen sexualisierten Gewalt in der Familie und der kommerziellen sexuellen Ausbeutung unterbetont werden.
Jenseits von Leugnung und Verdrängung
In der Diskurstradition um organisierte und rituelle Gewalt sind abnormale Beziehungsformen zentral, wie die innerhalb satanischer Kulte und Tatpersonennetzwerke. Allerdings geht aus den Berichten der Betroffenen hervor, dass die heterosexuelle Familie die Hauptrolle in der Organisation und der Geheimhaltung der Gewalt außerhalb der Familie einnimmt (Itzen, 1997; Lorena & Levy, 1998). Kinder werden zum Teil ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt auf die sexuelle Ausbeutung vorbereitet. Rituelle Tatpersonengruppen bestehen meist aus mehreren erweiterten Familiennetzwerken, die ihre Kinder untereinander und mit anderen Familiennetzwerken tauschen (Bentovim & Tranter, 1994).
Um sich organisierter und ritueller Gewalt zu stellen, bedarf es eines erweiterten Blickwinkels auf sexualisierte Gewalt, der Aspekte von sexueller Ausbeutung, Menschenhandel und ritueller Gewalt miteinbezieht. Netzwerke des Menschenhandels in Afrika werden als verschworen, geheim und rituell/kultisch bezeichnet (IOM, 2005, S. 83). Sie gleichen stark den Beschreibungen ritueller Gruppen im Westen als „Geheimgesellschaften“, in denen „viele unterschiedliche kriminelle Organisationen unentdeckt aktiv sind und zusammenarbeiten“ (IOM, 2001, S. 2108). In allen Ländern lässt sich eine Mittäter:innenschaft der Familie an außerfamiliär stattfindender Gewalt beobachten, beispielsweise durch Täterinnen, die ihre Kinder in Tatpersonen-Netzwerke hineinführen und -erziehen (Finkelhor & Williams, 1988; Itzen, 1997; Pearson, 2003). Weitere gemeinsame Merkmale ritueller Gewalt in verschiedenen Kulturen umfassen beispielsweise das Einsperren der betroffenen Personen, Kirchen und heilige Orte als Stätten der Gewalt, Tieropfer, das Zufügen ritueller Narben und Verbrennungen, Folter oder den Zwang bestimmte tabuisierte Substanzen wie Blut zu sich zu nehmen (Somerset, 2001; di Cortemiglia, 2003; Zimmerman et al., 2003; Aghatise, 2004; Amnesty International UK, 2006; Houreld, 2006). Auf der Seite der Betroffenen stellt sich meist starke Angst, Schweigen und Gehorsam in Reaktion auf rituelle Gewalt in entwickelten und Entwicklungsländern ein (Kelly, 2003; Aghatise, 2004).
Zusammengenommen sprechen Befunde aus aller Welt dafür, dass rituelle Gewaltformen dem Menschenhandel mit Kindern und der organisierten sexuellen Ausbeutung innewohnen. Die genaue Rolle, die das Rituelle hierbei spielt, ist noch zu ergründen. Rituelle Gewalt lässt sich nicht vollständig durch den Fokus auf Paraphilien, das Rituelle oder die Profitorientierung erklären, sodass neue integrative Modelle nötig sind. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist es, hinter die bizarre Fassade ritueller Tatpersonengruppen zu blicken, um die brutale Ausbeutung und die Finanzflüsse aufzudecken, die den Handel mit den Körpern von Kindern und Frauen in der westlichen Welt antreiben.
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