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Ein neues Narrativ zur „false memories“ Debatte

Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine inoffizielle Übersetzung und Zusammenfassung des Originalartikels:

Salter, M. (2018): Finding a new narrative: Meaningful responses to “false memory” disinformation. In: Sinason, V., Memory in Dispute. London.

Einleitung

In den 1980er-Jahren begannen Journalist:innen, zunächst in den USA, dann auch in Europa und Australien, ein neues Bild von sexuellem Kindesmissbrauch zu zeichnen. Die mediale Berichterstattung veränderte sich schlagartig von Desinteresse hin zu großflächiger Aufmerksamkeit. Die Medien sprachen von sexuellem Kindesmissbrauch als „unsichtbare Epidemie“ außergewöhnlichen Ausmaßes (Becket, 1996). Nur zehn Jahre später kehrte sich diese Position ins Gegenteil um: Die „unsichtbare Epidemie“ bezog sich nunmehr nicht auf den sexuellen Kindesmissbrauch, sondern auf sogenannte „false memories“. Hiermit werden bei einer Person erzeugte fehlerhafte Erinnerungen an sexualisierte Gewalt bezeichnet, die jedoch nicht wirklich stattfand. Die Ansicht, dass „false memories“ weitverbreitet seien, wurde durch eine kollektive Aufregung und Fehlverhalten von Psychotherapeut:innen und Sozialarbeiter:innen weiter bestärkt (Kitzinger, 2004). Andere psychosoziale Fachpersonen, Betroffene und deren Fürsprechende versuchten, die Fehlinterpretationen und Missverständnisse durch Forschungsergebnisse zu sexualisierter Gewalt, Traumata und Erinnerungsmechanismen aufzuklären – jedoch ohne Erfolg. Befürworter:innen der „false memories“ verstanden sich darauf, die Geschichte von sexuellem Kindesmissbrauch als ein Drama mit Held:innen (den fälschlich Beschuldigten) und Schurk:innen (z.B. Therapeut:innen, Feminist:innen) zu erzählen. Es findet so ein Kampf des Guten (der Wissenschaft, Vernunft und Rationalität) gegen das Finstere (das Dogma, die Fantasie) statt. Die präzisen, sachlichen Informationen der Personen, die die „false memory“-Theorie skeptischer sehen, besitzen nicht dieselbe emotionale Anziehungskraft. Infolgedessen prägen „false memories“ als führender Standpunkt noch immer die Massenmedien und das öffentliche Verständnis von sexuellem Kindesmissbrauch.

George Monbiot betont, dass Erzählungen oder Narrative eine Rasterfunktion haben. Mithilfe von Erzählungen organisieren Menschen Informationen und verleihen ihnen so Sinn und Ordnung. Wenn eine irreführende Erzählung verändert werden soll, dann sei es ein Fehler, sich auf Daten und Fakten zu verlassen: „Nur eine Geschichte kann eine Geschichte ersetzen“ (Monbiot, 2017: S. 3). Es muss also ein bedeutsames Alternativkonzept angeboten werden, das alle bekannten Informationen sinnvoll einordnet, selbst wenn sie sich widersprechen.

Der Autor sieht die Möglichkeit für eine solche Neuerzählung der Geschichte um sexualisierte Gewalt und Traumata. Unter anderem durch die Offenlegung von weitverbreitetem sexuellen Kindesmissbrauch in kirchlichen und anderen Institutionen hat das Narrativ um „false memories“ bereits eine Destabilisierung erfahren. Als Beschreibung der komplexen Schäden menschlicher Beziehungen und der stärkenden Wirkung von Fürsorge und Unterstützung wird gleichzeitig das Konzept des Traumas zunehmend wichtiger – sozial, politisch und psychologisch. Aber auch das Interesse an Traumata wird in der Öffentlichkeit und bei Fachpersonen gesteigert. Insgesamt bietet ein lösungsorientiertes Neuerzählen von „Trauma“ eine echte Alternative zur entfremdenden und zynischen „false memory“-Erzählung.

Die Bedeutung von sexuellem Kindesmissbrauch

Auch wenn der Medienboom der 1980er-Jahre anderes vermuten lässt, reicht die Dokumentation von sexuellem Kindesmissbrauch, begleitet von öffentlichem Unbehagen und großem Medieninteresse, bis ins 19. Jahrhundert zurück (Finnane & Smaal, 2016). Dennoch war bis in die 1980er-Jahre hinein relativ uneindeutig, was sexueller Kindesmissbrauch eigentlich bedeutet. Betroffenen und Tatpersonen wurden Bewertungen der „Sünde“ und des moralischen Verfalls zugeschrieben. Sich vage auf Freud stützende Theorien über kindliche Sexualität behaupteten, Kinder wünschten sich Sexualkontakt mit Erwachsenen (Shengold, 2000). Diese Argumente wurden in den 1950er-Jahren in bestimmten liberalen Forschungsmilieus wieder aufgegriffen, in denen ein häufiges Aufkommen sexuellen Kindesmissbrauchs als harmlos oder sogar zuträglich angesehen wurde (Olafson et al., 1993). Die soziale Auffassung von sexuellem Kindesmissbrauch war demnach lange Zeit verfahren, unzusammenhängend und moralisch mehrdeutig.

Der Zusammenschluss von Anliegen des Feminismus und des Jugendschutzes brachte in den 1970er- Jahren eine einfachere und emotionalisierte Deutung hervor: Sexueller Kindesmissbrauch ist häufig, schädlich und die Schuld des oder der Erwachsenen, nicht die des Kindes. Diese neue bewusste Wahrnehmung des Themas, Fortschritte in der Kinderheilkunde und gesetzliche Änderungen bewirkten in den 1980er-Jahren einen ungeahnten Anstieg der Berichte über sexuellen Kindesmissbrauch. Die vielen aufkommenden Fälle zeichneten das Bild einer „verdeckten Epidemie“ – eines erheblichen, aber unterdrückten sozialen Problems (Beckett, 1996). Die Erzählungen hatten dramatische Züge, die ihren Neuigkeitswert und ihre öffentliche Prominenz steigerten. Diese Aspekte bestimmen auch heute noch das öffentliche Bild und den politischen Diskurs zu sexuellem Kindesmissbrauch.

Konservatismus, Neoliberalismus und die Geschichte der „false memories“

Einrichtungen für die psychische Versorgung und den Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie Strafverfolgungsbehörden sahen sich in den 1980er-Jahren mit einer bisher beispiellosen Anzahl sexueller Gewaltfälle konfrontiert. Dennoch wurde durch ein Bündnis konservativer und neoliberaler Kräfte [Anm.: in den USA] auf politischer Ebene eine Kürzung der Budgets entsprechender sozialer Einrichtungen bewirkt (Campbell, 2018). Beide politische Lager verband die Ablehnung einer staatlichen Einmischung in die Privatsphäre, die sie wiederherzustellen suchten. Der Cleveland-Fall illustriert diese Auswirkungen und die Art, wie sie ineinandergreifen, beispielhaft:

In den 1980er-Jahren wurden in Cleveland im Nordosten Englands eine große Anzahl von Kindern wegen des Verdachts auf sexuellen Kindesmissbrauch von ihren Familien getrennt. Inmitten einer durch Budgetkürzungen verursachten Krise erlebten das örtliche Kinderkrankenhaus und andere Einrichtungen einen großen Zustrom gefährdeter Kinder. Das unvermeidbare systemische Versagen wurde jedoch den einzelnen Fachkräften angelastet. Trotz aussagekräftiger Beweise, dass die Kinder tatsächlich sexualisierte Gewalt erlebt haben, ist der Cleveland-Fall weithin als Beispiel für „false memories“, die durch das Fehlverhalten der Fachpersonen angeregt wurden, in Erinnerung geblieben (Campbell, 2018; Donaldson & O’Brien, 1995).

Im Zuge des Anstiegs der Fallzahlen ließ sich dieses Muster in den 1980er-Jahren im gesamten globalen Norden beobachten. Einige vieldiskutierte Fälle enthielten Anschuldigungen mehrerer Betroffener gegen mehrere Tatpersonen sowie Beschreibungen sadistischer und ritueller Gewalt und den Vorwurf der Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen (Salter, 2013). Da es an Fachkenntnis, Personal und Richtlinien fehlte, stellten die komplexen Fälle eine Herausforderung in der Zusammenarbeit zwischen Jugendschutz und Justizvollzug dar. Außerdem zeigten sie die Hürden des Strafrechtssystems für junge und traumatisierte Betroffene auf, beispielsweise durch belastende Kreuzverhöre oder indem Kinder gezwungen waren, den Beschuldigten bei gerichtlichen Befragungen zu begegnen. Die Schwierigkeiten bei der Aufklärung solcher Fälle wurden medial weiterhin als Beweis für eine Flut falscher Vorwürfe dargestellt (Cheit, 2014; Salter, 2018).

Der Fokus der Medien auf „falsche Erinnerungen“ an sexualisierte Gewalt verstärkte sich in den 1990er-Jahren weiter. Gesetzliche Änderungen in den USA erlaubten es Erwachsenen, die als Kind sexualisierte Gewalt erlebt hatten, rückwirkend Anklage gegen die Tatpersonen zu erheben. Als Reaktion vereinigten sich Beschuldigte unter dem Banner des „false memories“-Syndroms in einer Gegenbewegung (Brown et al., 1998), zu deren lautesten Befürworter:innen Journalist:innen zählten (Kitzinger, 2004). Ergreifende Darstellungen von Therapeut:innen, die glückliche Familien auseinanderrissen, indem sie Klient:innen dazu manipulierten, sich an einen nie geschehenen Inzest zu erinnern, erwiesen sich als außerordentlich medienwirksam. Demnach wurden nicht etwa die Gewalt ausübenden Tatpersonen, sondern Therapeut:innen und im Jugendschutz Tätige als Gefahr und zudem als obsessiv, inkompetent und pervers auf sexualisierte Gewalt fokussiert dargestellt.

Campbell (2003) führt das „false memories“-Narrativ auf ein Grundprinzip des Liberalismus zurück: den Gegensatz zwischen dem Ideal des rationalen, eigenständigen Individuums einerseits und der minderwertigen, abhängigen, in ihrem Denken unselbstständigen Person andererseits. Unter „false memories“-Befürworter:innen galten verlässliche, „wahre“ Erinnerungen als präzise, rein geistig und beständig. Insbesondere mussten sie isoliert vom Einwirken anderer für die Person abrufbar sein. Erinnerungen, die hiervon abwichen, galten als nicht vertrauenswürdig. Insbesondere lückenhafte, körperliche, stark emotionale Erinnerungen, die erst durch ein Ereignis oder eine Person ausgelöst zugänglich wurden, galten demnach als „falsch“. Diese Gegensätze von wahr und falsch, rational undemotional, unabhängig und abhängig wurden stark auf die Geschlechter übertragen. Dies diente dem Zweck, Frauen, die psychische Hilfe suchten, als einfach manipulierbar darzustellen. Sie seien unfähig, Dinge rational zu bewerten und eigenständig zu denken (Gaarder, 2000).

Besonders in den 1990er-Jahren wurden diese Gegensätze betont: Im Neoliberalismus, der an Einfluss gewann, wurde die individuelle Eigenständigkeit wertgeschätzt, während der Abhängigkeit von anderen etwas Krankhaftes zugeschrieben wurde. Vertreter:innen des bürgerlichen und des sexuellen Liberalismus warfen dem Staat und den Befürworter:innen von Betroffenen vor, das Problem übertrieben darzustellen, und so wurde das „false memories“-Narrativ zur weltweit dominanten Erzählung über sexuellen Kindesmissbrauch (Beckett, 1996; Kitzinger, 2004). Die Fehlwahrnehmung in den Medien reichte sogar so weit, dass sie sich auf die öffentliche Fallaufzeichnung niederschlug. Beispielsweise eröffneten die laxen gesetzlichen Regulierungen im Bereich öffentlicher Einrichtungen, wie Kindertagesstätten, Tatpersonen einfache Möglichkeiten, an Kinder heranzukommen. Indizien, wonach einzelne Einrichtungen nur zum Zweck der Ausübung von sexualisierter Gewalt entstanden, wurden in den Medien systematisch unterdrückt und als soziale Panikmache abgetan (Cheit, 2014). Auch dieses Narrativ hält sich bis heute.

Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, der Wissenschaft sowie Fürsprecher:innen von Betroffenen versuchten durch strategische Nachforschungen das entstandene Bild zu korrigieren. Die Forschungsergebnisse zu Gedächtnisverlust, Dissoziation (Dissoziation: Verlust des ganzheitlichen Zusammenhangs der Wahrnehmung, von Erinnerung, Identitätsbewusstsein, Empfindung und Körperbewegung) und Trauma bildeten in den 1990er-Jahren die Basis für eine wissenschaftlich fundierte Behandlung komplexer Traumata (Brown et al., 1998). Fehler der Untersuchungen zu „false memories“ (z.B. Pope, 1996) und die Darstellung schwerwiegender Fälle sexualisierter Gewalt in den Medien (z.B. Sinason, 1994) wurden durch Forscher:innen und klinische Fachpersonen kritisch beleuchtet. Die Beweise für Übertreibungen, Verallgemeinerungen und Widersprüche des „false memories“-Narrativs häuften sich – wurden in der öffentlichen Berichterstattung jedoch weiterhin zum Großteil ignoriert. Im Gegenteil: Befürworter:innen von „false memories“ erhielten umfangreiche berufliche und mediale Plattformen. In Erwartung einer starken öffentlichen Gegenreaktion drückten Forscher:innen und gesundheitliche Fachpersonen ihre Angst aus, sich gegen das „false memories“-Narrativ zu stellen.

Der Riss im „false memories“ Narrativ

Im Jahr 2002 veröffentliche die US-amerikanische Zeitung Boston Globe eine Artikelserie zu sexuellem Kindesmissbrauch in der Kirche, die zu einer größeren medialen Aufmerksamkeit und großflächigerer Berichterstattung führten als zu Hochzeiten der „false memories“ in den 1990er- Jahren. In direktem Widerspruch zu jenem Narrativ machte die Aufdeckung von sexuellem Kindesmissbrauch in der Kirche das tiefgreifende Desinteresse, die Tatenlosigkeit und die Komplizenschaft der Behörden auf hoher Ebene offensichtlich. Anschließende „Missbrauchsskandale“ benannten hochrangige und prominente Tatpersonen, wie dies auch in der heutigen #MeToo-Debatte der Fall ist. Was also den Riss im Narrativ um „false memories“ – wenn auch nicht dessen Ablösung – bewirkte, waren letztendlich nicht Forschungserkenntnisse, sondern weitere Geschichten. Die weltweite Finanzkrise 2008 stellte außerdem die neoliberale Auffassung des souveränen, unabhängigen Individuums infrage, welches seit jeher im Zentrum der Erzählung um „false memories“ steht. Die Krise offenbarte die katastrophalen Folgen einer solchen Selbstzentriertheit. Das ehemalige Ideal wurde zum Schauplatz erheblicher sozialer Konflikte.

Obwohl zentrale Annahmen und Bestandteile der Erzählung um „false memories“ als widerlegt gelten, bleibt diese Erzählung fest im Journalismus verankert. Trotz des verständnisvolleren Umgangs mit Personen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, wird in den Medien immer noch regelmäßig vor „Panikmache“ und „Hexenjagden“ gewarnt – wie in den 1980er- und 1990er-Jahren. Das Narrativ der „false memories“ wird jedoch zur Vergangenheit erklärt: Die heutige Gesellschaft habe solche Tendenzen zwar schon längst überkommen, müsse sie allerdings als Warnung in Erinnerung behalten (Richardson, 2015). Diese Neuerzählung dient dem Zweck, den Widerspruch zwischen der großen Beliebtheit der „false memories“-Erzählungen damals und den sich häufenden Beweisen für deren Ungültigkeit heute aufzulösen. Dies führt dazu, dass die beiden Erzählungen nun in einem Spannungsverhältnis nebeneinander existieren: Auf der einen Seite die „false memories“- Erzählung, auf der anderen ein erneuertes Verständnis von sexuellem Kindesmissbrauch als weitverbreitet, verdeckt und schädlich.

Das Narrativ verändern

Warum also war das „false memories“ Narrativ so lange so einflussreich? Kitzinger (2004) begründet dies einerseits durch eine männliche Tradition im Journalismus. Außerdem sei sexueller Kindesmissbrauch für die (hauptsächlich männlichen) Journalist:innen irgendwann ein sich wiederholendes „langweiliges“ Thema geworden, wohingegen die „false memories“-Geschichte neu und aufregend schien. Weiterhin sollte, wie bereits erwähnt, das politische Klima der 1980er- und 1990er-Jahre berücksichtigt werden. Nach der neoliberalen Grundidee der persönlichen Autonomie galten kindliche Traumata als „Ausrede“ für eine schlechte Lebenslage. Die erwachsene Frau, die von ihrem:ihrer Therapeut:in abhängig ist, stellte einen Gegensatz zum Ideal des unabhängigen Individuums dar.

Es ist kein Zufall, dass sich die „false memories“-Erzählung auf solche sozialen und politischen Tendenzen und Gesinnungen stützt. Die Verfechter:innen von „false memories“ begriffen, dass sie eine Geschichte entwickeln mussten, die im Kontext ihrer Zeit „Sinn“ ergab. Bei komplexen Themen wie Kindesmissbrauch suchen Menschen in diesem „Sinn“ keine Fakten, sondern eine verlässlich und wahrhaftig erscheinende Erzählung (Monbiot, 2017). Die „false memories“-Befürworter:innen verhalfen einer Weltanschauung zu Popularität, die zwar keinen faktischen Informationsgewinn über Kindesmissbrauch lieferte, aber ein neues Verständnis des bereits Bekannten in Bezug auf dieses Thema mitlieferte und auf diese Weise Sinn stiftete. Zweifelsohne war sexueller Kindesmissbrauch ein komplexes Thema, über welches bis in die 1980er-Jahre hinein wenig bekannt war. Die plötzliche Allgegenwart dieses Themas passte nicht in das Verständnis von Wohlwollen und Nächstenliebe, welches den sozialen Pfeilern der Gesellschaft, den Familien, Kirchen und Schulen, zugrunde lag. Dass hauptsächlich Männer als Tatpersonen benannt wurden, wurde zudem als unterschwellige Kritik an Männern per se verstanden. Dies rief eine Abwehrhaltung hervor und führte zur Anschuldigung, Feministinnen würden sich gegen Männer verschwören (Kitzinger, 2004). Die mediale Glaubwürdigkeit wurde zudem durch die Berichte über sexualisierte Gewalt an mehreren Betroffenen durch mehrere Tatpersonen strapaziert (Salter, 2013, 2018). Diese Geschichten störten die gültigen und wahrhaftig scheinenden Erzählungen zur Sinngebung in der Gesellschaft, wie Monbiot (2017) beschreibt. Im Gegensatz boten die „false memories“-Fürsprecher:innen eine Geschichte an, die sich nahtloser anknüpfte, indem die Schwere der berichteten Gewalt als überzogen und die Betroffenen als am „false memories“-Syndrom erkrankt dargestellt wurden. Die „false memories“-Erzählung war also in ein breites Spektrum an Überzeugungen und Prinzipien über individuelle Unabhängigkeit eingebettet und sprach die kollektiven Ängste ihrer Zeit an.

Die wissenschaftliche Datenlage zu „false memories“ war schon immer dürftig: Forschungsergebnisse wurden übertrieben dargestellt, fälschlich angewandt oder ungültig verallgemeinert (Brewin & Andrews, 2017). Dennoch konnte die „false memories“-Erzählung im Angesicht widerlegender Beweise bestehen bleiben. Monbiot (2017) bestätigt, dass Menschen an einer Geschichte festhalten, wenn sie einmal an sie glauben und sie ihnen hilft, ihre Lebenswelt zu verstehen – auch wenn ihnen aufgezeigt wird, dass diese Geschichte nicht wahr ist. Im Gegenteil scheinen Widerlegungsbestrebungen und Gegenbeweise das Festhalten an der Geschichte ungewollt nur weiter zu bestätigen und zu verfestigen. Die Widerlegung allein ist also keine ausreichende Antwort auf das „false memory“-Narrativ. Monbiot (2017) betont, dass wir ausgleichende Geschichten brauchen, in denen die verfügbaren Informationen verschiedener Personen und Perspektiven stimmig und sinnvoll zusammengeführt werden.

Trauma: Eine neue Erzählung

Trotz der Beliebtheit des „false memories“-Narrativs ist das Bewusstsein um Trauma als Konzept in den letzten 30 Jahren stetig gewachsen. Es beschreibt ein Spektrum von Reaktionen auf Herabsetzung und Entmenschlichung, das alle Menschen teilen (Good & Hinton, 2016; Ross, 2011). Das Trauma-Konzept bietet einen Zugang zum Beschreiben und Verstehen der Allgegenwärtigkeit von Verlust und Betrug und deren Auswirkungen auf das Wohlbefinden. Aus diesem Grund wird das Konzept persönlich, aber auch professionell vielfach anerkannt. Traumata sind für eine breite Öffentlichkeit interessant, jedoch auch politisch im andauernden Diskurs um die Auswirkungen von Kolonisierung und Völkermorden wichtig. Generell scheinen Traumata so präsent zu sein wie nie zuvor.

Das öffentliche Verständnis von Traumata hat sich so weit entwickelt, dass es eine überzeugende Gegenerzählung zu „false memories“ bieten kann. Damit ein politisches Narrativ auch wirksam sein kann, muss es nach Monbiot (2017) „einfach und verständlich“ und „mit tiefen Bedürfnissen und Wünschen im Einklang“ stehen (S. 13). Außerdem müsse es die Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, verstehen und erklären können, und bodenständige, realistische Lösungen anbieten. All diese Anforderungen erfüllt das aktuelle Forschungsgebiet zu Traumata und deren Behandlung. Das Konzept der Traumata erinnert uns an unsere grundlegende Abhängigkeit voneinander als Menschen, an die Offenheit gegenüber anderen und an die leichten oder schweren Verletzungen, die wir durch fehlende Anerkennung oder Gewalthandlungen erfahren: durch Fehlanpassung, durch Gewalt durch Erziehungsberechtigten an Kindern oder durch die Dominanzherrschaft von Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Klassismus oder anderen Formen struktureller Benachteiligung.

Der Diskurs um und die Behandlung und Erforschung von Traumata haben die Wichtigkeit tiefer emotionaler Bindungen für die menschliche Entwicklung und für die Wiederherstellung des Miteinanders und des Wohlergehens bestärkt. Dieser Fokus auf das Zwischenmenschliche ist vielleicht der zentrale Punkt, der in vorherigen Erzählungen über sexuellen Kindesmissbrauch fehlte, und der stets ein unlösbares Problem darstellte. Studien zur Entstehung von Traumata haben verschiedenste soziale Probleme als traumatische Ursprünge identifiziert – von Kriminalität bis Substanzmissbrauch. Allerdings gibt es eine Reihe vielversprechender Mittel zur Vorbeugung, Erkennung und Behandlung sexuellen Kindesmissbrauchs und anderer sozialer Probleme. Dabei geht es, wie auch im Diskurs über Traumata, um die Stärkung der Gegenseitigkeit in Beziehungen, z.B. durch Aufklärungsarbeit bei Eltern, Unterstützung von Familien, sichere Einrichtungen für Kinder und die Förderung sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit. All diese Maßnahmen reduzieren nachweislich das Aufkommen von sexuellem Kindesmissbrauch sowie anderer Formen der Gewalt (Quadra et al., 2015). In diesem Sinne beschreibt das Konzept des Traumas nicht nur ein Problem, sondern deutet zunehmend auf vielfach benötigte Lösungen hin.

Schlussfolgerung

Nach einem Anstieg des Medieninteresses an sexuellem Kindesmissbrauch in den 1980er-Jahren gelang es „false memories“-Fürsprecher:innen, Belege für das weitverbreitete Aufkommen von sexuellem Kindesmissbrauch in Beweise für falsche Anschuldigungen umzudeuten. Aus ideologischer Motivation heraus wurden Anschauungen des liberalen Individualismus und wissenschaftlicher Sachlichkeit eingesetzt, um Erwachsene, die Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit offenbarten, und deren Therapeut:innen zu diskreditieren. Die Erzählung der „false memories“ basierte auf den politischen Grundüberzeugungen der 1980er- und 1990er-Jahre. Diese boten Journalist:innen, Akademiker:innen und der Öffentlichkeit eine einfache Möglichkeit zur Erklärung des plötzlichen Anstiegs von Missbrauchsberichten – insbesondere dort, wo die Anschuldigungen dem allgemein Gültigen widersprachen.

Obwohl detailliertes Informieren und Aufklären wichtige und nötige Reaktionen auf die falschen Behauptungen der „false memories“ sind, reicht dies allein nicht aus. Wenn auch nicht in ihrer ursprünglichen Form, so hat sich die „false memories“-Erzählung dennoch bis heute gehalten. Die Entgegnung durch eine ebenso emotionale und aussagekräftige Erzählung steht noch aus. Der psychologische und politische Diskurs um Traumata kann das „Rohmaterial“ für eine solche Gegenerzählung liefern. Die Geschichte der Traumatisierungen wird auf eine Art erzählt, die uns mit unseren Erfahrungen im Zwischenmenschlichen anspricht, indem sie unsere tiefen Bedürfnisse nach Bindung und Anerkennung bestärkt. Das Trauma-Narrativ legt nahe, dass viele individuelle und soziale Probleme durch Vernachlässigung und das Ausnutzen menschlicher Verletzlichkeit entstehen. Hier gilt es aufzuarbeiten und zu schützen.


Referenzen

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