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Organisierte Gewalt im Erwachsenenalter: Perspektiven von Betroffenen und Fachpersonen

Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine inoffizielle Übersetzung und Zusammenfassung des Originalartikels:

Salter, M. (2017). Organized abuse in adulthood: Survivor and professional perspectives. Journal of Trauma & Dissociation, 18(3), S. 441–453.

Zusammenfassung

Dieser Artikel berichtet über die vorläufigen Ergebnisse einer qualitativen (in der qualitativen Forschung werden meist wenige Fälle untersucht, die dafür aber ausführlich beschrieben werden, um Einzelheiten für eine interpretative Auswertung und ein tieferes Verständnis zu erhalten. Es werden vor allem offene Fragen gestellt, um viele individuelle Informationen zu sammeln) Studie. Befragt wurden australische Frauen, die Erfahrungen organisierte Gewalt offenlegten, sowie Fachpersonen aus dem Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung, die diese Frauen behandelten. Diese auf Interviews basierende Studie analysiert den engen Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und körperlicher Sicherheit für Erwachsene, die organisierter Gewalt ausgesetzt waren. Der therapeutische Fortschritt erwachsener Betroffener kann durch anhaltende Bedrohung, Stalking (Stalking: engl.: nachstellen; strafbare Verfolgung, Belästigung oder Bedrohung einer Person, bis hin zu psychischer und physischer Gewalt) und Gruppengewalt beeinträchtigt werden. Dies verstärkt wiederum die dissoziativen (Dissoziation: Verlust des ganzheitlichen Zusammenhangs von Wahrnehmung, Erinnerung, Identitätsbewusstsein, Empfindung und Körperbewegung) Reaktionen und schädigende zwischenmenschliche Bindungen, welche Betroffene für weitere Erfahrungen von sexualisierter Gewalt – sogenannte Viktimisierung – anfällig machen. Der Artikel argumentiert, dass das Durchbrechen dieses Kreislaufs das Eingreifen mehrerer Behörden erfordert. Beschrieben werden die Reaktionen von Polizei, medizinischen Diensten und des Jugendschutzes aus Sicht von Betroffenen und psychosozialen Fachpersonen. Der vorliegende Artikel hebt systembedingte Fehler, aber auch Chancen hervor und fordert eine koordinierte Reaktion auf organisierte Gewalt im Erwachsenenalter. Dies schließt eine behördenübergreifende Zusammenarbeit zur Gewährleistung von mehr Sicherheit und zur Verbesserung der Wirksamkeit therapeutischer Interventionen mit ein.

Einleitung

Im Rahmen dieser Arbeit sollten die Erfahrungen von Betroffenen in ihren Bemühungen, Unterstützung zu finden, sowie die Praxiserfahrung von Fachpersonen, die diese Unterstützung anbieten, wissenschaftlich untersucht und dokumentiert werden. In Interviews mit Betroffenen und Fachleuten werden die Zusammenhänge zwischen psychischem Wohlbefinden und körperlicher Sicherheit bei Frauen mit Erfahrungen von organisierter Gewalt hervorgehoben. Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit von Berichten über anhaltende Gewalt und die begrenzte Fähigkeit der Fachpersonen, für die Sicherheit ihrer Klient:innen zu sorgen, erschweren die Bemühungen von psychosozialen Fachpersonen, diesen „Teufelskreis“ zu durchbrechen. In ihren Schilderungen schlagen Betroffene und Fachpersonen vor, durch die Zusammenarbeit mehrerer Behörden die Sicherheit der Betroffenen (und gegebenenfalls ihrer Kinder) zu unterstützen und die Wirksamkeit der therapeutischen Arbeit zu verbessern. Sind Fachpersonen allerdings nicht einer Meinung oder nicht ausreichend geschult, besteht die Gefahr, dass Berichte vorzeitig abgewiesen, Betroffene stigmatisiert, retraumatisiert und Behandlungsinterventionen ergriffen werden, die potenziell schädlich sind.

Methoden

Die Studie basiert auf Interviews mit 16 weiblichen Betroffenen von organisierter Gewalt und 18 Fachpersonen aus Gesundheitsberufen. Die Teilnehmenden wurden in Zusammenarbeit mit psychosozialen Organisationen für das Interview gewonnen. Das Alter der Betroffenen lag zwischen Anfang 20 und Ende 60, die meisten waren zwischen 30 und 40 Jahre alt. Die Betroffenen verorteten den Beginn der organisierten Gewalt in der frühen Kindheit, meistens eingeleitet durch den Vater oder beide Elternteile, und berichteten eine Dauer des Missbrauchs bis ins Erwachsenenalter. Alle Betroffenen berichteten sadistische (Sadismus, sadistisch: Empfinden von Lust/Befriedigung durch Demütigung anderer, z.B. durch das Zufügen körperlicher Schmerzen) Formen sexueller Gewalt. Zwei Drittel beschrieben rituelle Gewalt, oft (wenn auch nicht immer) mit „satanischem“ Unterton. Etwa die Hälfte der Betroffenen beschrieb das beabsichtigte Herbeiführen der Dissoziation durch die Tatpersonen in der Kindheit („mind-control“, engl.: Gedankenkontrolle). In der Gruppe der Fachpersonen waren Psychiater:innen, klinische Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Therapeut:innen und Berater:innen vertreten. Die Mehrheit von ihnen praktizierte seit 10 bis 20 Jahren und war klinisch und therapeutisch qualifiziert. Zwei Drittel praktizierten privat, ein Drittel in öffentlichen Bereichen.

Die Studie zielte nicht darauf ab, alle Betroffenen und mit ihnen in Kontakt stehende Fachpersonen repräsentativ abzubilden. Vielmehr sollten verschiedene Berichte über organisierte Gewalt im Erwachsenenalter und deren Umstände analysiert sowie die Reaktionen auf solche Berichte ermittelt werden. Die Interviews wurden persönlich oder via Skype durchgeführt und dauerten bei den Fachpersonen zwischen 1–2 Stunden und bei den Betroffenen zwischen 3–4 Stunden. Die Interviews wurden aufgezeichnet und professionell verschriftlicht, anonymisiert und pseudonymisiert, um den Schutz der lebensgeschichtlichen Daten der Befragten zu gewährleisten. Kriminologische Rahmenbedingungen, geschlechtsspezifische Gewalt und Theorien zu Trauma, Dissoziation und Bindung strukturierten die Auswertung der Interviews.

Ergebnisse

Im Interview schilderten Betroffene und Fachpersonen verschiedene Hindernisse für die Genesung und Sicherheit der Betroffenen. Diese Hindernisse an der Schnittstelle zwischen dissoziativen Störungen und organisierter Gewalt werden durch den folgenden Fall veranschaulicht.

Leona, eine Kunsttherapeutin, arbeitete bereits fünf Jahre mit ihrer Klientin Rosie zusammen, als diese anhaltende organisierte Gewalt offenbarte. Rosies Psychiater hatte bei ihr zuvor eine dissoziative Identitätsstörung (Dissoziative Identitätsstörung: Unterbrechung in der ganzheitlichen Funktion der Identität, des Gedächtnisses und des Bewusstseins, welche nicht als einheitlich und zusammengehörig erlebt werden. Verschiedene Persönlichkeitsanteile übernehmen abwechselnd das Denken, Fühlen und Verhalten) diagnostiziert und ihre Berichte aktuell stattfindender Gewalt auf „flashbacks“ [Anm.: engl. Rückblende; plötzliches Wiedererleben des Traumas] zurückgeführt. Er war jedoch beunruhigt über Rosies mangelnden therapeutischen Fortschritt und verwies auf eine Kunsttherapie bei Leona. Nach einigen Monaten der Behandlung begann Rosie mit Leona über eine Gruppe von Männern zu sprechen, die manchmal auf Parkplätzen auf sie warte oder sie während ihrer Autofahrt an den Straßenrand dränge. Diese Männer und ihr Auftauchen lösten bei ihr eine dissoziative Reaktion aus. Rosie erzählte, dass sie dann von diesen Männern zu einem Anwesen gebracht wurde, wo sie u.a. sexueller Gewalt und sadistischen Handlungen ausgesetzt war. Elektroschocks waren laut Rosie eine Strafe dafür gewesen, dass sie einmal nicht freiwillig mit zu dem Anwesen gegangen war. Nach diesen Ereignissen kam Rosie zutiefst traumatisiert, mit offensichtlichen körperlichen Schmerzen und ungewöhnlichen Verletzungen in die Therapie. Einige externe Überprüfungen waren über Rosies Freunde möglich: Diese bestätigten, dass sie bereits koordinierte Versuche, Rosie zu verfolgen und zu entführen, verhindert hatten.

In der Therapie arbeiteten Rosie und Leona an Strategien, um Dissoziationen bei einer Konfrontation mit diesen Männern zu vermeiden. Leona berichtete jedoch, dass Rosie manchmal das Bewusstsein verliere und sich später auf dem Grundstück der Männer wiederfinde, nachdem ein anderer, dissoziierter Teil ihrer Persönlichkeit sie in ihrem eigenen Auto dorthin gebracht habe. Rosie habe so das Gefühl, dass der Missbrauch unvermeidlich sei. Leona führte Rosies mangelnden therapeutischen Fortschritt, der ihren Psychiater so verwirrt hatte, auf ihre anhaltende Viktimisierung und die Auswirkungen schwerer Traumatisierungen zurück.

„Rosie ist (...) empfänglich für den therapeutischen Prozess und ich sehe, wie sie sich verbessert, ich sehe, wie sie Fortschritte macht (...), und dann wird alles einfach abgerissen. Egal, was wir tun, es wird rückgängig gemacht.“

Tatsächlich bewirkte die fehlende Sicherheit, dass Rosie stets retraumatisiert wurde und so nicht über die anfängliche Phase der Traumatherapie hinauskam. Doch Leona fand es auch schwierig, Rosie an andere Unterstützungsangebote oder Behörden zu vermitteln, welche für die zum Therapiefortschritt benötigte Sicherheit sorgen könnten. Rosie weigerte sich mit der Polizei zu sprechen, da sie vor einigen Jahren, als einer ihrer kindlichen Anteile bei einem Hilfetelefon für Kinder angerufen hatte, eine negative Erfahrung gemacht hatte. Dazu Leona:

„Die Polizei kam zum Haus und stellte fest, dass sie eine Frau in den Dreißigern war. Sie haben das Ganze einfach fallen lassen. Danach vertraute sie ihnen nie wieder. Das war’s. Sie muss durch diese Erfahrung sehr verwundet worden sein.“

Leona war hinsichtlich einer Verbesserung des Behandlungsverlaufs skeptisch, solange Rosie weiterhin von der Tatpersonengruppe angegriffen wurde und andere Behörden unangemessen auf ihre komplexen Bedürfnisse reagierten. Einige der befragten Fachpersonen beschrieben die paradoxe Situation Betroffener, die bei ihren Bemühungen, dem Trauma der organisierten Gewalt zu entkommen, auf retraumatisierende Reaktionen der Behörden stoßen. Sozialarbeiterin Charlotte sagte:

„Es ist meine allgemeine Erfahrung: Je schlimmer der Missbrauch, desto schlechter ist die Reaktion des Systems. Aber je schwerwiegender der Missbrauch ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass das System gar nicht damit umgehen kann (...).“

Auch Fachpersonen erleben solche Rückschläge, entweder durch skeptische Kolleg:innen oder durch andere Behörden. Im Folgenden wird ein Überblick über die Reaktionen verschiedener Behörden gegeben, die Betroffene oder Fachpersonen bezüglich organisierter Gewalt im Erwachsenenalter kontaktiert haben.

Reaktionen des Systems auf organisierte Gewalt im Erwachsenenalter

Dieser Abschnitt konzentriert sich auf Begegnungen von Betroffenen mit 1) der Polizei, 2) medizinischen Diensten und 3) Jugendschutzdiensten und fasst einige allgemeine Themen in Interviews mit Betroffenen und psychosozialen Fachpersonen zusammen.

1) Polizei und Strafjustiz

Die meisten Betroffenen hatten wegen der organisierten Gewalt zu irgendeinem Zeitpunkt Kontakt zur Polizei, im Allgemeinen mit schlechten Ergebnissen. Eine betroffene Person wurde z.B. in die Notaufnahme eines Krankenhauses eingeliefert, nachdem sie entführt, und nach Anwendung sexualisierter Gewalt beinahe bewusstlos am Straßenrand zurückgelassen worden war. Die behandelnden Ärzt:innen kontaktierten die Polizei. Die Beamt:innen versuchten noch im Krankenhaus eine Befragung durchzuführen. Traumatisiert und bettlägerig wollte die betroffene Person nicht über den Vorfall sprechen, woraufhin die Polizei verärgert abrückte.
Andere Betroffene suchten aktiv nach Unterstützung bei der Polizei, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Der Mangel an Expertise und Verständnis für komplexe Traumata und Dissoziationen bei den Strafverfolgungsbehörden stellte allerdings ein großes Hindernis für die Untersuchung und Verfolgung der gemeldeten Vorfälle dar. So beschrieb Claudia:

„(...) Ich dachte mir: Ich muss es der Polizei sagen und diese über 20 Personen verhaften lassen oder mindestens einen von ihnen, um ein Zeichen zu setzen (...). Also ging ich zur Polizei, hatte anfangs wirklich gute Erfahrungen mit einer Frau in der Abteilung für Sexualstraftaten gemacht. Aber sie wurde versetzt und stattdessen ging mein Fall von den Sexualdelikten direkt zu den allgemeinen strafrechtlichen Ermittlungen über (...).“

Weitere nachfolgende Änderungen im Untersuchungsprozess verängstigten Claudia. Beispielsweise wurde sie verpflichtet, eine Polizeistation in der Nähe eines Ortes aufzusuchen, an dem die Gewalt hauptsächlich stattgefunden hatte. Tatpersonen hätten sie so möglicherweise beim Betreten der Polizeistation sehen können. Es wurde ihr nicht länger erlaubt, ihre Aussage schriftlich darzulegen; die Ermittelnden bestanden darauf, dass sie ihre Erklärung auf Video fortsetzte. Diese Situation barg für sie potenziell das Risiko einer dissoziativen Reaktion. Die Beamt:innen tauchten zudem mehrmals ohne Ankündigung und entgegen ihrer expliziten Anweisung bei ihr zu Hause auf. Mit anwaltlicher und psychiatrischer Unterstützung zog sich Claudia vollständig aus der Ermittlung zurück, die daraufhin eingestellt wurde.

Ein weiteres großes Hindernis für die Kontaktaufnahme und die Vertrauensbildung zur Polizei war eine mutmaßliche Tatbeteiligung der Polizei. Julia, die mit von Vergewaltigung Betroffenen arbeitet, berichtete beispielsweise von einer ehemaligen Polizistin, die über fünf Jahre hinweg ihre Klientin war. Diese weigerte sich, zur Polizei zu gehen. Während ihres Polizeidienstes war sie selbst gezwungen worden, sich an Gewalttaten zu beteiligen und diese zu vertuschen:

„Die Frau beschrieb mir, wie sie bei der Polizei arbeitete und dass sie, weil sie gezwungen wurde, anderen Menschen etwas anzutun, sich deshalb unfähig fühlte, jemandem [von ihren eigenen Gewalterfahrungen zu erzählen. Als junge Frau wurde sie rekrutiert, sie war eine Novizin. Sie war eine junge Polizistin und trug eine Uniform – sie half Männern bei ihren Taten.“

Dieser Bericht stimmt mit den Erinnerungen anderer Betroffener überein, die organisierte Gewalt im Erwachsenenalter durch männliche Polizisten beschrieben. Beispielsweise reichte Zoe, eine Betroffene, eine formelle Beschwerde bezüglich der Beteiligung von Polizisten. Die Ermittlungen ergaben, dass es zwar sexuelle Aktivitäten gegeben hatte – diese seien aber einvernehmlich gewesen. Zoe, die von Kindheit an trainiert wurde, diesen Männern unter Androhung von Gewalt zu gehorchen, hatte sich nicht gewehrt. Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurden ihre Angst vor den Tatpersonen und ihre dissoziative Fügsamkeit als sexuelle Zustimmung missverstanden.

2) Medizinische Dienste

Nach Gewalttaten mussten die Betroffenen oftmals medizinisch versorgt werden. Untypische Verletzungen konnten hierbei jedoch Fragen nach ihrer Glaubwürdigkeit aufwerfen. So nahmen medizinische Fachpersonen vielfach an, die Verletzungen seien selbst verursacht – trotz der Missbrauchsschilderungen der Betroffenen. Tatsächlich kommt Selbstverletzung bei Menschen mit dissoziativen Störungen häufig vor (Middleton & Butler, 1998). In einigen Fällen können sich die Personen an das Zufügen der Verletzung nicht mehr erinnern. In dieser Studie waren die psychosozialen Fachpersonen jedoch eher besorgt, dass eine Viktimisierung ihrer Klient:innen wegen der unkritischen Annahme der Selbstverletzung seitens des medizinischen Fachpersonals unerkannt bleiben könnte. Zum Beispiel betreute die Psychiaterin Maya eine junge Klientin, die sich zum Zeitpunkt der Behandlung aus organisierten Gewaltstrukturen zurückzog. Ihr Ausstieg führte zu Vergeltungsmaßnahmen seitens der Tatpersonengruppe. Die Verletzungen ordnete Maya so ein, dass die junge Frau sie sich nicht selbst zugefügt haben konnte. Als sich die Klientin jedoch in der Notaufnahme vorstellte, wurden ihre körperlichen Beweise fälschlicherweise als Selbstverletzung diagnostiziert:

„(...), der Täter kam zu ihr nach Hause und folterte sie (...). Und nahm Zweige, Wurzeln und Blätter (...) und steckte, glaube ich, 12 oder 15 große Stöcke in ihre Vagina (...). Und sie ist zur Notaufnahme gegangen und hat sie entfernen lassen. Natürlich denken sie, dass sie sie dort reingesteckt hatte.“

Die korrekte Beurteilung solcher Verletzungen ist entscheidend, um eine angemessene Behandlung der Betroffenen sicherzustellen. Bei einer anderen Klientin traten beispielsweise erhebliche gynäkologische Komplikationen auf, die eine Operation erforderlich machten. Julia machte sich angesichts der aktuell stattfindenden organisierten Gewalt, welche die Klientin offenbarte, Sorgen wegen des Eingriffs. Ihr Vorgesetzter stellte jedoch infrage, ob es sich bei den Offenbarungen tatsächlich um anhaltende Gewalt oder lediglich um Flashbacks oder Erinnerungen an die organisierte Gewalt handelte. Mit Erlaubnis ihrer Klientin kontaktierte Julia deren Hausärztin. Diese hatte über Jahre hinweg den Gesundheitszustand der Klientin dokumentiert. Ihre medizinischen Berichte stimmten mit denen der Klientin über sadistische sexuelle Gewalt überein. Die Bestätigung über anhaltende Gewaltanwendung hatte eine Reihe wichtiger Auswirkungen. Julia konnte ihre Unterstützung besser an die gynäkologischen Bedürfnisse der Klientin anpassen, sodass die Operation ihre Verletzungen nicht verschlimmerte oder sie für weitere Gewaltanwendung anfällig machte. Die medizinische Bestätigung gab Julia zudem die Gewissheit, dass ihre Klientin in ihren Berichten von anhaltender Gewalt keine „flashbacks“ erlebte, sondern die fehlende Sicherheit vor organisierter Gewalt das Problem war. Letztlich lieferte die medizinische Dokumentation weitere Bestätigung und mögliche Beweise im Falle einer Anzeige der Tatpersonen. Dies zeigt, wie wichtig es ist, die Offenlegungen von Betroffenen ernst zu nehmen, offen für die Möglichkeit anhaltender Viktimisierung zu bleiben und gleichzeitig die Häufigkeit und Komplexität von Selbstverletzungen anzuerkennen.

3) Jugendschutz

Organisierte Gewalt im Erwachsenenalter wirft wichtige und weitgehend unbeantwortete Fragen zur Sicherheit und zum Schutz der Kinder von Betroffenen auf. Die spezifischen Muster der Viktimisierung, die bei organisierter Gewalt im Erwachsenenalter erkennbar sind, können von Jugendschutzbehörden missverstanden werden – mit schwerwiegenden Folgen für Frauen und Kinder. Richard, ein Psychiater, beschrieb eine Klientin, deren Ehemann Teil einer Tatpersonengruppe war, von der die Klientin seit ihrer Kindheit missbraucht wurde. Der Ehemann selbst hatte sie sadistisch missbraucht, was zu mehreren Krankenhausaufenthalten geführt hatte. Die Mitarbeitenden des Jugendschutzes beschuldigten die Klientin, sich vor ihrer Tochter selbst verletzt zu haben, und brachten die Tochter dauerhaft bei ihrem Ehemann unter – trotz der Erklärungen Richards und des behandelnden Ärzt:innenteams, wonach ihre Verletzungen nicht selbst zugefügt wurden:

„[Der Jugendschutz] hatte die Ansicht, dass der Ehemann wunderbar ist, und dass sie eine Geisteskrankheit hat, dass sie sich selbst verletzt und dass sie sich bei ihrer Tochter für die Selbstverletzung entschuldigen müsse (...).“

Andere Fachleute beschrieben Situationen, in denen Frauen zur Last gelegt wurde, dass sie das gewaltvolle Umfeld nicht verlassen hatten. Dennoch können Jugendschutzbehörden eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Frauen spielen, die Schutz vor organisierter Gewalt für sich und ihre Kinder suchen. Rhea stieg aus einer Tatpersonengruppe aus, in der Gewalt an ihr und ihrem Sohn ausgeübt wurde. Während der Zeit ihres Ausstiegs war sie Drohungen, sexuellen Übergriffen und Einbrüchen in ihr Zuhause ausgesetzt. Ihre Therapeutin konnte über eine Jugendschutzmitarbeiterin bei der sicheren Unterbringung ihres Sohnes helfen. Der Jugendschutz erkannte die Gefahr für ihr Kind und ergriff entsprechende Maßnahmen. Dies ermöglichte es Rhea, sich auf die Etablierung ihrer eigenen Sicherheit zu konzentrieren sowie intensiv mit ihrer Therapeutin und der Polizei zusammenzuarbeiten. Ihr Sohn wurde in ihre Obhut zurückgebracht, sie konnte ihn sicher erziehen und ihr Leben frei von erneuter Viktimisierung fortsetzen.

Diskussion

Die klinische Behandlung von dissoziativen Störungen hat sich in den letzten 30 Jahren erheblich weiterentwickelt. Studien zeigen maßgebliche Verbesserungen über mehrere klinische Bereiche hinweg (Brand et al., 2009). Die vorläufigen Ergebnisse dieser Studie legen jedoch nahe, dass die Reaktionen der Behörden auf dissoziative Erwachsene mit diesen Behandlungsfortschritten nicht mithalten können – und das obwohl Betroffene Unterstützung benötigen und häufig eine Reihe von Behörden auf sie aufmerksam werden. In dieser Studie beschrieben Betroffene und Fachpersonen inkonsistente Reaktionen auf organisierte Gewalt im Erwachsenenalter innerhalb verschiedener Institutionen wie psychiatrische oder medizinische Einrichtungen, Strafverfolgung, und Jugendschutz. Wenn im Falle einer Offenlegung organisierter Gewalt mit angemessener Unterstützung reagiert wurde, war dies größtenteils Glückssache. Betroffene und Fachpersonen beschrieben den Versuch, anhaltende Viktimisierung sowie psychische Erkrankungen zu bewältigen – und dies vor dem Hintergrund von Behörden, die weder Dissoziation noch organisierte Gewalt erkannten. Ohne ein unterstützendes und schützendes Netzwerk war es für die Befragten schwierig, eine optimistische Perspektive in Krisenzeiten aufrechtzuerhalten. Eine weitere Schwierigkeit war es, ohne jene Ressourcen eine professionelle Arbeitsbeziehung innerhalb der therapeutischen Grenzen zu wahren, d.h. ohne eine übermäßige persönliche Verantwortung und Involvierung der Therapierenden. Sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die befragten Fachpersonen war es eine Herausforderung, die Balance zwischen der Verbesserung des Wohlbefindens und der Unabhängigkeit der Betroffenen zu halten – bei gleichzeitiger Bewältigung und Verringerung ihres Risikos der Viktimisierung. Die vorherrschende Sichtweise, dass Personen ab der Volljährigkeit unabhängig sind und Entscheidungen aus freien Stücken treffen können, reicht nicht aus, um die Handlungen erwachsender Betroffener von organisierter Gewalt zu verstehen. Was für einen externen Beobachter wie die „Entscheidung“ eines Erwachsenen aussieht, kann in der Regel eher als erzwungenes Verhalten, das auf Gewalterfahrung, Angst und Manipulation beruht, interpretiert werden. Einige Behörden sahen die Verantwortung für die organisierte Gewalt vor allem bei den Betroffenen: Sie beschuldigten sie, ein Risiko für ihre Kinder darzustellen, sich scheinbar nicht an die Anweisungen der Polizei zu halten, oder wegen ihrer Verletzungen. Andere Behörden bezeichneten Betroffene als unfähig und verantwortungslos, als „verrückt“ oder wahnhaft. Derart polarisierte Reaktionen können die Dynamik der Demütigung und Selbstvorwürfe bei Betroffenen verstärken und die Genesung und Sicherheit weiter gefährden. Sowohl Betroffene als auch praktizierende Fachpersonen sahen es als „Ironie des Schicksals“, dass Erwachsene dem System der organisierten Gewalt entkommen könnten, nur um sich dann in eine Reihe anderer destruktiver Systeme zu verstricken.

Schlussfolgerung

Die vorläufigen Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass in einer Reihe von Hilfesystemen und Behörden, die mit erwachsenen Betroffenen von organisierter Gewalt in Kontakt stehen, mehr Schulungen und Kapazitätsaufbau erforderlich sind. Die Behandlung von Betroffenen und ihrer Kinder kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden eine relativ sichere Umgebung schaffen kann. Die Reaktionen der verschiedenen Systeme offenbarten jedoch eine Reihe von Bruchstellen. Die mangelnde Anerkennung von Dissoziation oder organisierter Gewalt und die klischeehafte Vorverurteilung von Frauen als Lügnerinnen führten zu unsachlicher Skepsis und manchmal zu Feindseligkeit gegenüber den betroffenen Frauen. Beweise für organisierte Gewalt wurden häufig so verwendet, dass sie die Glaubwürdigkeit der Betroffenen infrage stellten. Zum Beispiel wurden Verletzungen nach Übergriffen als Selbstverletzung diagnostiziert und dissoziative Zustände als Zustimmung zu sexuellen Handlungen missverstanden. Schulung und Wissen zu organisierter Gewalt sind entscheidende Faktoren, damit unterstützende und wirksame von ineffektiven oder schädlichen Interventionen unterschieden werden können. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Arbeit mit den Klient:innen, sondern auch auf die Rahmenbedingungen von Politik und Behörden: Organisierte Gewalt stellt ein spezifisches Muster der Viktimisierung dar, das in den bestehenden Maßnahmen zur Bewältigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder nur unzureichend berücksichtigt wird.


Referenzen

  • Brand, B. L., Classen, C. C., McNary, S. W. & Zaveri, P. (2009): A review of dissociative disorders treatment studies. The Journal of Nervous and Mental Disease, 197(9), S. 646–654. https://doi.org/10.1097/NMD.0b013e3181b3afaa (Abruf 18.07.2021).
  • Middleton, W. & Butler, J. (1998): Dissociative identity disorder: An Australian series. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 2(6), S. 794–804. https://doi.org/10.3109/00048679809073868 (Abruf 18.07.2021).