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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Rechtliche Aspekte im Kontext von organisierter und ritueller Gewalt

Personen, die von sexualisierter Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen betroffen sind, haben in der Regel eine Reihe von rechtlich relevanten Fragen. Der folgende Text greift die wichtigsten Fragen auf und erläutert diese kurz im Sinne einer ersten Orientierung. Er ersetzt keine juristische Beratung. Betroffene sollten im konkreten Fall eine juristische Beratung und Vertretung hinzuziehen, etwa durch fachlich und persönlich geeignete Rechtsanwält:innen.

Das Legalitätsprinzip im Strafrecht

Polizeibeamt:innen und Staatsanwält:innen unterliegen dem sogenannten Legalitätsprinzip nach § 152 Abs. 2 StPO. Das heißt: Wenn sie von einer Straftat erfahren, müssen sie diese in aller Regel auch verfolgen. Eine ergebnisoffene Beratung von Betroffenen oder anderen Personen können sie daher im Gegensatz zu Rechtsanwält:innen nicht leisten.

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    Darüber hinaus können sich im Zuge eines Strafverfahrens nicht alle professionell Helfenden auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO oder einen Schutz vor der Beschlagnahme von Akten nach § 97 StPO berufen. Dieses berufliche Recht gilt nur für Personen mit Approbation wie zum Beispiel Ärzt:innen und psychologische Psychotherapeut:innen. Sie können auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht zurückgreifen und beispielsweise ihre Akten zurückhalten. Für andere Helfende ohne Approbation gilt das nicht. Dazu zählen zum Beispiel Menschen, die therapeutisch nach dem Heilpraktikergesetz tätig sind, Mitarbeiter:innen von Fachberatungsstellen zu sexualisierter Gewalt, Betreuer:innen im Rahmen von Eingliederungshilfe oder sonstige Ausstiegshelfer:innen.

Verjährungsfristen im Kontext von Strafverfahren

Ist eine Tat im strafrechtlichen Sinne verjährt, kann sie nicht mehr verfolgt werden. Verjährungsfristen stellen daher eine besondere Hürde bei der strafrechtlichen Aufarbeitung dar. Gerade im Bereich der sexualisierten Gewalt ist es Betroffenen oft erst nach vielen Jahren möglich, sich der Vergangenheit zu stellen und die Kraft für ein Strafverfahren aufzubringen. Geschah die Gewalt im Kontext organisierter sexualisierter und ritueller Strukturen, ist es für die Betroffenen erfahrungsgemäß noch schwerer.

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    Vor diesem Hintergrund wurden mit diversen Gesetzesänderungen die Verjährungsfristen nach §§ 78 ff. StGB speziell im Sexualstrafrecht immer weiter ausgedehnt. Das betrifft sowohl deren Beginn als auch deren Länge. Für Straftaten aus dem Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs kommen Verjährungsfristen zwischen fünf und 20 Jahren (bei Missbrauch mit Todesfolge 30 Jahre) in Betracht.

    Für gewöhnlich beginnt im Strafrecht die Verjährung mit der Beendigung der Tat. Eine Ausnahme stellt seit der Gesetzesänderung vom Januar 2015 der Beginn der Verjährung von schweren Sexualstraftaten dar. Hier ruht die Verjährung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres der betroffenen Person (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB). Dies gilt auch für Taten, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung begangen wurden, sofern sie zum Zeitpunkt der Anklage noch nicht nach der alten Rechtslage verjährt waren. Im deutschen Recht kann für eine bereits verjährte Tat die Verjährungsfrist nicht mehr rückwirkend aufgehoben werden.

    Die rechtsverbindliche Ermittlung der jeweiligen Verjährungsfrist ist nur im Einzelfall möglich. Die Entscheidung trifft die jeweilige Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht. Um den Erfolg einer Anzeige von zurückliegenden Delikten besser abschätzen zu können, ist eine sorgfältige Einzelfallprüfung mit juristischer Unterstützung notwendig.

Erfolgsaussichten für Strafverfahren

Von entscheidender Bedeutung für die Erfolgsaussichten ist zunächst die Existenz äußerer Beweise, die über die eigene Zeug:innenaussage hinausgehen. Dies können Dokumente wie etwa Fotos/Aufzeichnungen von Verletzungen, Tatorten, Tatpersonen, Orten, Zeiten sowie Botschaften von Tatpersonen, aber auch ärztliche oder pädagogische Berichte sein. Auch Dokumente aus vorherigen Strafverfahren oder Ergebnisse früher durchgeführter Beweissicherungen wie zum Beispiel aus einer anonymen Spurensicherung gelten als äußere Beweise.

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    Daneben kommen auch externe Zeug:innen in Betracht. Das können sowohl Bekannte, Angehörige oder Freund:innen sein als auch psychosoziale, pädagogische oder medizinische Fachkräfte. Gerichte binden oft auch Sachverständige ein. Besonders im Hinblick auf Glaubhaftigkeitsgutachten ist es von großer Bedeutung, dass diese Expert:innen gute psychotraumatologische Kenntnisse haben.

    Ein möglichst sicheres Umfeld der Betroffenen ohne fortgesetzte äußere Bedrohung sowie eine stabilisierende Psychotherapie kann auch zum Erfolg eines Strafverfahrens beitragen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Therapie bis zum Abschluss des Strafverfahrens möglichst wenig aufdeckend arbeitet. Andernfalls wird von den Gerichten häufig die Gefahr einer Verfälschung von Erinnerungen gesehen. Dies wiederum kann dazu führen, dass sie die Qualität der Aussage infrage stellen. Psychotherapeut:innen sollten den Verlauf der Therapie ausführlich dokumentieren, um den Vorwurf von Suggestion abzuwenden.

Betroffene und helfende Personen als Beschuldigte im Strafverfahren

Viele Betroffene haben sehr große Angst, in einem Strafverfahren möglicherweise auch selbst beschuldigt zu werden. Dazu tragen mitunter wiederholte Einschüchterungen durch die Tatpersonen bei. Diese drohen beispielsweise damit, auf eine Strafanzeige mit Gegenanzeigen wegen Verleumdung zu reagieren.

Viele Betroffene von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt berichten zudem, dass sie auch selbst Straftaten begangen haben oder von zukünftig geplanten Straftaten wissen. Damit kommen weitere strafrechtliche Fragen und Unsicherheiten auf.

Im deutschen Strafrecht gibt es keine Anzeigepflicht im Hinblick auf zurückliegende Straftaten. Das heißt: Niemand muss eine Straftat anzeigen, die in der Vergangenheit stattgefunden hat. Die Anzeigepflicht im Hinblick auf geplante Taten ist sehr eng begrenzt auf den Katalog des § 138 StGB (Nichtanzeige geplanter Straftaten). Dieser Katalog umfasst beispielsweise Mord und einige Kapitalverbrechen, jedoch keine Sexualstraftaten. Da es nach vielen Berichten von Betroffenen im Kontext von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt auch zu Mord und Kapitalverbrechen kommt, ist der § 138 StGB dennoch relevant. Voraussetzung ist, dass die Gefahr der Begehung entsprechender Verbrechen im Vorfeld zeitlich und örtlich hinreichend konkretisierbar ist. Eine Verurteilung von Betroffenen oder helfenden Personen hiernach dürfte in der Praxis als eher unwahrscheinlich anzusehen sein.

Nicht selten berichten Betroffene, dass Tatpersonengruppen ihnen damit drohen, ihre eigene und in aller Regel erzwungene Beteiligung an schweren Straftaten öffentlich zu machen und/oder anzuzeigen. Laut diesen Berichten setzen Tatpersonen Betroffene dabei auch immer wieder mit Filmaufnahmen unter Druck, die die Betroffenen angeblich oder auch tatsächlich bei solchen Taten zeigen. So verstärken die Tatpersonengruppen Schuld- und Schamgefühle bei den Betroffenen und verhindern juristische Aufklärung. Zu vermuten ist aus Sicht der Praxis jedoch, dass Tatpersonengruppen vermeiden würden, Belege für Straftaten vorzulegen, die innerhalb der Gruppe stattgefunden haben – zu sehr lebten sie davon, dass die entsprechenden Verbrechen und die dahinterliegenden Strukturen im Verborgenen bleiben. Werden Betroffene oder professionell unterstützende Personen mit angedrohten oder tatsächlichen Strafanzeigen seitens der Tatpersonen konfrontiert, sollten sie sich juristischen Rat suchen. Es ist erfahrungsgemäß gut, wenn sie sich allen Drohungen zum Trotz nicht einschüchtern lassen und weiterhin für ihre Rechte einstehen.

Bedeutung eines Strafverfahrens für betroffene Personen

Generell befinden sich Betroffene von Gewaltdelikten während des Strafverfahrens gegen Tatpersonen in einer prozessualen Doppelrolle:

Sie können als Nebenklagende aktiv am Verfahren teilnehmen, Beweisanträge stellen und Rechtsmittel einlegen. Das kann teilweise mit staatlich finanzierter anwaltlicher Vertretung im Wege der sogenannten Beiordnung geschehen. Beiordnung bedeutet, dass einer für finanziell bedürftig erachteten Prozesspartei eine anwaltliche Vertretung zugewiesen wird.

Gleichzeitig haben Betroffene als sogenannte Opferzeug:innen praktisch immer eine zentrale Rolle in der Beweisführung. Mit ihrer Aussage steht und fällt das Verfahren oft. Vor diesem Hintergrund prüfen und befragen alle Verfahrensbeteiligte die betroffenen Personen intensiv. Dies geschieht zum Beispiel auch im Rahmen aussagepsychologischer Gutachten.

Die eingesetzten Gutachter:innen unterstützen Gerichte und Staatsanwaltschaften bei der Bewertung von Aussagen der Opferzeug:innen – üblicherweise vor allem dann, wenn keine oder kaum Beweise vorliegen. Sie geben eine Einschätzung, ob die Aussage auf tatsächlich Erlebtem basiert. Die Gutachter:innen sind dazu verpflichtet, als Grundthese von der Unwahrheit der Aussage der Opferzeug:innen auszugehen und darauf aufbauend Alternativhypothesen zu prüfen. Dies führt dazu, dass Betroffene es oft als äußerst belastend erleben, wenn ihre Schilderungen hinterfragt werden und sie die erlebte Gewalt beweisen müssen. Eine derartige Erfahrung kann bewirken, dass die oben beschriebenen Botschaften der Tatpersonen („Du spinnst nur“; „Niemand wird Dir glauben“) getriggert werden. Schlimmstenfalls werden Betroffene dadurch neu traumatisiert. Eine Aussage für sich reicht nur selten für eine Verurteilung aus, da in unserem Rechtssystem der Grundsatz „in dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten) gilt. Das ist besonders für traumatisierte und vulnerable Betroffene schwerer Gewalttaten eine große Herausforderung und erschwert in solchen Fällen effektive Strafverfolgung.

Angesichts der enormen Belastung, die ein Strafverfahren für Betroffene mit sich bringen kann, ist die Entscheidung für eine Strafanzeige daher gut abzuwägen. Oft ist es sinnvoll, neben den Erfolgsaussichten in einem möglichen Strafverfahren auch weitere Aspekte einzubeziehen. Eine Strafanzeige kann beispielsweise ein Signal für die Tatpersonen sein, dass die betroffene Person so etwas nicht mehr mit sich machen lässt. So kann sie das Selbstbewusstsein der Betroffenen stärken. Auf der anderen Seite kann eine Strafanzeige auch zu einer Destabilisierung beitragen und den Ausstieg erschweren, weil zum Beispiel mögliche Programmierungen ausgelöst werden. Es ist gut, wenn Betroffene die Vor- und Nachteile sensibel abwägen, bevor sie das Erlebte bei der Polizei anzeigen. Im Idealfall lassen sie sich von Beginn an professionell begleiten und beraten, zum Beispiel durch psychosoziale Prozessbegleiter:innen oder juristische Fachkräfte.