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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Ressourcen für betroffene Personen

Was kann Personen, die sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen erlebt haben, bei der Alltagsbewältigung helfen? Im Folgenden werden Möglichkeiten individueller Ressourcenarbeit beschrieben, die auf einer wissenschaftlichen Befragung von Betroffenen beruhen.

Ressourcen

Im Kontext der Psychotherapie versteht man unter Ressourcen „alles, was von einer Person in einer bestimmten Situation wertgeschätzt und/oder als hilfreich erlebt wird“ (1). Ressourcen sind Fähigkeiten und Stärken, die uns dabei unterstützen, alltägliche, aber auch besondere Aufgaben und Anforderungen zu bewältigen (2,3). Ressourcen können Betroffenen dabei helfen, Stress und die Symptome von Traumafolgestörungen zu reduzieren (4), mit diesen besser umzugehen, sich selbst zu beruhigen, Stress zu kontrollieren und sich zu stabilisieren (5). Dabei spielt die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eine große Rolle: Eine Person mit starkem Selbstwirksamkeitserleben erfährt, dass sie etwas bewirken und auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln kann. Die Möglichkeit, sich selbst durch die Anwendung von Ressourcen zu stabilisieren, ist wichtig und vielfältig (6): Es hilft dabei, die eigenen Gefühle zu regulieren, sich gut um sich selbst zu kümmern, neue Ziele und Perspektiven aufzubauen, sich einen sicheren Rahmen zu schaffen, soziale Kontakte aufzubauen oder zu erweitern, alltägliche Probleme zu lösen und gegenüber sich selbst kleine und große Erfolge anzuerkennen. Die Ressourcenorientierung hat in der Psychotherapie eine wissenschaftlich anerkannte Wirkung (7). Viele Betroffene fühlen sich hilflos in der Folge von traumatischen Ereignissen. Ressourcenorientierung kann ihnen helfen, abhanden gekommene Gefühle von Sicherheit und Kontrolle wiederzuerlangen.

Ressourcen für betroffene Personen

Vielfältige Informationen zu Ressourcen bieten die Ergebnisse einer anonymen Online-Befragung von Personen, die sexualisierte Gewalt in organisierten sexualisierten und rituellen Strukturen erfahren haben. Die Studienteilnehmenden wurden danach gefragt, was ihnen bei der Bewältigung dieser Erfahrungen geholfen hat (8).

Insgesamt 129 Studienteilnehmende haben diese Frage beantwortet und zusammen 158 verschiedene Ressourcen angegeben, die in den folgenden 14 Überkategorien zusammengefasst wurden: Professionelle Unterstützung, soziale Beziehungen, Umgang mit organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt, Freizeit, Beruf und Alltag, Tiere, Umgang mit der Dissoziativen Identitätsstruktur, gesellschaftliche Akzeptanz, Natur, Selbsthilfe, Sport, Ich-Funktion, Spiritualität und Glaube sowie Sonstiges. Diese Überkategorien werden in diesem Text näher erläutert.

Zu lesen, was andere Betroffene als Ressourcen nutzen, kann hilfreich sein, um auf neue Ideen für den Aufbau oder die Erweiterung eigener Ressourcen zu kommen.

Professionelle Unterstützung

Unter der Kategorie professionelle Unterstützung sind Aussagen zusammengefasst, in denen es um Unterstützungsangebote wie zum Beispiel Psychotherapie (insbesondere traumafokussierte Psychotherapie), sozialpädagogische Unterstützung, ambulante Betreuung, alternative Therapien (z.B. Kunst- oder Musiktherapie), Rechtsberatung und Schutzhäuser geht. Insgesamt haben 43% der Studienteilnehmenden mindestens einmal Unterstützungsangebote als Ressource genannt. Das verdeutlicht, wie wichtig ein gutes Versorgungssystem für Betroffene ist. Leider ist es oftmals schwierig, kompetente Unterstützung zu finden.

"Meine wichtigsten Erfahrungen: […] Eine Therapeutin, die offen und ehrlich ist und bereit ist, sich individuell auf den Menschen einzustellen, um dann gemeinsam diesen Weg zu gehen. Als Betroffene vorher nicht zu wissen, wie schwer der Weg ist auszusteigen, ist hilfreich. Initiative sollte vom Betroffenen ausgehen. Helfernetz kann den Rahmen bieten."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Soziale Beziehungen

Soziale Beziehungen nannten Betroffene am zweithäufigsten. Für 40% der Studienteilnehmenden sind beispielsweise Freundschaften, Familienmitglieder, Kinder oder Lebenspartner:innen eine Ressource. Zu sozialen Beziehungen gehören auch Gefühle und Bedürfnisse, die in sozialen Beziehungen entstehen, aber nicht an eine bestimmte Person gebunden sein müssen, wie beispielsweise Liebe, Zuwendung, Nähe, Ehrlichkeit und Vertrauen.

"Ganz wichtig waren Menschen, die mir/uns etwas zugetraut haben. ‚Du kannst das! Du schaffst das!‘ Immer wieder und an jedem Meilenstein meiner Entwicklung als Kind, Jugendliche und Erwachsene."

"Aber wichtig waren auch Menschen, die mir halfen, neue Lebensperspektiven zu entwickeln, die mir Mut machten, Träume zu haben und sie zu lebbarem Leben zu machen. […] Menschen, die mir ihre Welt zeigten, ihr Denken und Fühlen und wie es ist, ‚Eine‘ zu sein (ein integrierter Mensch) – ohne sie hätte ich/hätten wir uns nicht auf den Weg der Integration einlassen können."

Zitate von Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Umgang mit organisierter und ritueller Gewalt

Weiterhin nannten die Teilnehmenden der Studie verschiedene Aspekte der Auseinandersetzung und des Umgangs mit dem Thema organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt. Dazu gehört zum Beispiel der Austausch mit anderen Betroffenen, Schutzmaßnahmen treffen, Wissen aufbauen, Fachbücher lesen, die eigene Geschichte teilen, keine Opferrolle annehmen, spezifische Selbsthilfegruppen und -foren nutzen. Für 34% ist die Auseinandersetzung mit dem Thema eine hilfreiche Ressource.

"Da wir bis auf unsere Therapeutin keinerlei Hilfe beim Ausstieg hatten, war eine Bewältigungsstrategie, dass wir Dokumente hinterlegt haben. Sollte uns oder unserer Therapeutin etwas passieren, dann wären diese an die Staatsanwaltschaft gelangt."

"Das Gefühl und die Erfahrung damit nicht alleine zu sein und nicht exotisch."

"Wichtig ist vielfältige passgenaue Unterstützung. […] Ein sicherer Ort zum Wohnen, gute Rechtsberatung, ein Urlaub, und oft eben auch Geld, um all das bezahlen zu können: Umzüge, Auskunftssperren, Namensänderungen, rechtliche Absicherungen (gerade auch zum Schutz vor der Herkunftsfamilie), beruflicher Neuanfang, das Leben neu organisieren mit allem, was dazu gehört."

Zitate von Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Freizeit

In die Kategorie Freizeitgestaltung fallen zahlreiche unterschiedliche Ressourcen, die von 22% der Studienteilnehmenden benannt wurden, wie zum Beispiel Kunst/Kreatives, Schreiben, Malen, Musik, Nähen, soziales Engagement, Reisen, Lesen, Basteln, Kino.

"Ich habe viele Hobbies, bin kreativ, spiele einige Instrumente, schreibe, nähe, siede Seife, bastel und mache Grafiken."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Beruf und Alltag

19% der Studienteilnehmer:innen nannten Ressourcen, die der Kategorie Beruf und Alltag zuzuordnen sind: Berufstätigkeit, Studium, Lernen, Ausbildungsabschluss, Wohnung.

"Für mich war es sehr wichtig, trotz meines Viele-Seins, das Abitur nachzuholen, zu studieren und bis heute in meinem Beruf tätig zu sein. Auf diesem Weg habe ich auch viele Fähigkeiten entdeckt, die Innenpersonen von mir haben. Meine Arbeit hilft mir, mit meinen Stärken und Fähigkeiten in Kontakt zu sein und mich nicht nur mit den Schrecklichkeiten auseinandersetzen zu müssen (auf ein ‚Opfer‘ reduziert zu sein)."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Tiere

"Meine Tiere sind eine sehr wichtige Ressource."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Umgang mit der Dissoziativen Identitätsstruktur

Weiterhin nannten 16% der Studienteilnehmenden verschiedene Aspekte, die sich auf eine hilfreiche Auseinandersetzung mit dem Thema Dissoziative Identitätsstörung (DIS) bezogen, wie zum Beispiel ein Bewusstsein für die DIS erlangen, Fachbücher lesen, am Körpergefühl arbeiten, spezifische Selbsthilfegruppen besuchen, Identitätsgefühl stärken, Akzeptanz der Diagnose und Integration der Persönlichkeitsanteile.

"Neben den professionellen Hilfen helfen uns ansonsten noch Kontakte über eine Selbsthilfegruppe für DIS und eigene Möglichkeiten der Ablenkung (Schreiben, Kreatives, …), sodass wir hier und heute im Hier und Jetzt ankommen können und Anteile, die das Schreckliche erlebt haben, auch Schönes erfahren."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Gesellschaftliche Akzeptanz

Weitere Ressourcen bezogen sich auf die gesellschaftliche Akzeptanz des Themas organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt. Dies wurde von 16% der Studienteilnehmenden als Ressource benannt. Betroffene erlebten es als stärkend und hilfreich, von anderen Personen verstanden und akzeptiert zu werden, bei anderen Empathie zu spüren, politisch aktiv zu sein und Öffentlichkeitsarbeit für das Thema zu machen.

"Mir ist wichtig, dass das Leid von uns Betroffenen gesehen und geglaubt wird!"

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Natur

Natur als Ressource nannten 12% der Studienteilnehmenden. Sie schilderten beispielsweise, dass sie es als hilfreich empfinden, sich in der Natur aufzuhalten, im Wald spazieren zu gehen oder Gartenarbeit zu verrichten.

"Bunte Blätter, fröhliche Vöglein, muntere Waldtiere, Bäume, die sich im Wind wiegen, Wasser, das rauscht, plätschert und Wellen schlägt, steile Felsen […]. Das ist Leben."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Selbsthilfe

Selbsthilfe und Psychohygiene als Ressourcen gaben 10% an. Darunter gehört beispielsweise etwas Schönes erleben, Fertigkeiten trainieren, Imaginationsübungen und Selbsthilfemethoden anwenden.

"Mir hilft, mich immer wieder an meine Ressourcen zu erinnern und daran, nicht schuld zu sein, auch wenn ich mich schuldig fühle."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Sport

Darüber hinaus wurde eine Vielzahl an Aktivitäten aus dem Bereich Sport genannt, wie zum Beispiel Laufen, Bewegung, Walken, Yoga, Wandern, Bouldern/Klettern, Bergsteigen und Boxen. Sport haben 9% der Studienteilnehmenden als Ressource angeführt.

"[…] Die Beratungsstelle bietet an, 1x die Woche 6 km zu walken, klingt erst mal banal, aber ist so was Tolles, wenn man immer wieder Angst hat rauszugehen [und] 1000 Sicherheits- und Alarmsysteme hochfährt, dort kann ich mich an frischer Luft bewegen (Bewegung tut so was von gut) und ich bin frei, frei vom Kopf, ich brauche nicht aufpassen. Es ist kein therapeutisches Angebot laut Ausschreibung, also wir sprechen dort nur über die Vögel und was uns begegnet, aber es gibt mir so viel Freiheit und Leben, lässt mich ausprobieren […] und ich bin in dem Moment einfach mal so ganz normal, wie alle anderen, die da walken oder laufen."

Zitat einer Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Ich-Funktion

Einige Ressourcen, die Studienteilnehmende als hilfreich benannten, lassen sich unter der Kategorie Ich-Funktionen zusammenfassen: Selbstfürsorge, Selbstmitgefühl, Selbstvertrauen, Selbstliebe, Selbstschutz, Selbstannahme, Selbstwirksamkeit, Umgang mit Emotionen, Hoffnung, Verantwortungsbewusstsein und Wille. Von 6% der Studienteilnehmenden wurde mindestens eine Ressource beschrieben, die in den Bereich der Ich-Funktion fällt.

Spiritualität und Glaube

Weitere 5% der Studienteilnehmenden nannten Ressourcen, die dem Bereich der Spiritualität zugeordnet wurden. Dazu gehörten bespielweise Aussagen zu Glaube, Meditation, Existenzsinn, Seelsorge und Gottesdienste.

"Völlig neues Erlernen von Selbstliebe und Selbstfürsorge, mich trösten, mich beruhigen, mir zuhören, mir nach und nach alles erklären, endlich Ursachen erschließen, auf meinen Körper hören lernen, Liebe, Freundschaft und Spiritualität erleben."

"Ohne Gott und die wertvollen Menschen, die er mir an meine Seite gab und bis heute gibt, hätte ich all das nicht überlebt."

Zitat von Betroffenen aus der Online-Studie, Kraus et al., 2020 (8)
Sonstiges

Einige Aspekte, die von Studienteilnehmenden als Ressource genannt wurden, ließen sich nicht in Kategorien zusammenfassen. Das geschieht beispielsweise dann, wenn nur eine Person etwas zu einem Thema äußert und das Thema in keines der anderen Themenbereiche passt. Diese Aussagen werden dann unter der Kategorie Sonstiges zusammengefasst. In dieser Studie sind in der Kategorie Sonstiges beispielsweise Aussagen zu den Ressourcen Ruhe, Rückzugsmöglichkeiten und Zeit.

Ressourcen …

können zu Stabilität, Alltagsbewältigung und einem positiveren Lebensgefühl beitragen. Sich intensiv mit den eigenen, bereits vorhandenen Ressourcen auseinanderzusetzen, diese zu stärken und neue Ressourcen zu entdecken, empfinden Betroffenen daher oftmals als hilfreich und lohnend.


Referenzen

  1. Nestmann, F. (1996): Psychosoziale Beratung – ein ressourcentheoretischer Entwurf. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 28(3), S. 359‒376.
  2. Fredersdorf, F. & Himmer, M. (2010): Junge Sozialarbeitswissenschaft. Diplomarbeiten zu relevanten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Wiesbaden.
  3. Willutzki, U. & Teismann, T. (2013): Ressourcenaktivierung in der Psychotherapie. Göttingen.
  4. Wöller, W. (2006): Trauma und Persönlichkeitsstörungen: psychodynamisch-integrative Therapie. Stuttgart.
  5. Sack, M. (2010): Schonende Traumatherapie: Ressourcenorientierte Behandlung von Traumafolgestörungen. Stuttgart.
  6. Sack, M. (2007): Überlegungen zu einer ressourcenorientierten Behandlung traumatisierter Patienten. In: F. Lamprecht (Hrsg.), Wohin entwickelt sich die Traumatherapie? Bewährte Ansätze und neue Perspektiven. Stuttgart, S. 165‒175.
  7. Grawe, K. & Grawe-Gerber, M. (1999): Ressourcenaktivierung: Ein primäres Wirkprinzip der Psychotherapie. Psychotherapeut, 44, S. 63–73.
  8. Kraus, A. K., Schröder, J., Nick, S., Briken, P. & Richter-Appelt, H. (2020): Ressourcen von Betroffenen und psychosozialen Fachkräften im Kontext von organisierter und ritueller Gewalt. PTT-Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie, 24(3), S. 241‒254. https://doi.org/10.21706/ptt-24-3-241