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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Psychotherapie bei Menschen im Kontext von organisierter und ritueller Gewalt

Personen, die sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen erlebt haben, kann durch eine Psychotherapie geholfen werden. Der folgende Text stellt relevante Aspekte einer Psychotherapie unter Berücksichtigung der besonderen Situation Betroffener vor. Alle Informationen wurden in langjähriger praktischer therapeutischer Praxis mit betroffenen Menschen gesammelt.

Hier geht es zu den S3 Leitlinien der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT).

Behandlung von Kindern und Jugendlichen

Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen steht am Anfang der psychotherapeutischen Arbeit, dass die Kinder ihre jeweiligen Erfahrungen im Kontext von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt gemeinsam mit ihren Therapeut:innen einordnen und verstehen. In einer tragfähigen therapeutischen Beziehung schaffen es viele Kinder recht explizit von ihren Gewalterfahrungen zu berichten. Kinder, die von organisierter sexueller Ausbeutung betroffen sind, brauchen erfahrungsgemäß eine sehr viel längere Zeit als andere, um sich im therapeutischen Setting ausreichend sicher zu fühlen. Umso wichtiger ist eine feinfühlige Arbeit mit engen und schützenden Bezugspersonen. Je älter die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind, desto eher ist das Gespräch das Hauptmedium der Psychotherapie. Vielen betroffenen Jugendlichen fehlt es an liebevoller Zuwendung und alternativen Lebensmodellen jenseits der Herkunftsfamilie. In der Psychotherapie kann an diesen Themen gemeinsam gearbeitet werden. 

Innensystem bei dissoziativen Identitätsstrukturen (DIS)

Menschen mit einer DIS haben verschiedene Persönlichkeitsanteile, die unabhängig voneinander denken, fühlen und handeln können. In der Regel findet der therapeutische Kontakt zunächst mit der sogenannten „Alltagspersönlichkeit“ oder „vorderen Persönlichkeit“ statt. Bei Patient:innen mit einer DIS kann im Verlauf der Therapie daran gearbeitet werden, weitere Persönlichkeitsanteile wahrzunehmen und mit ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Funktionen im gemeinsamen Leben im selben Körper zu erfassen. Der therapeutische Kontakt wird in der Regel von weiteren Persönlichkeitsanteilen beobachtet und, teilweise unbemerkt für Therapeut:innen, mitgestaltet. Diese Anteile können verschiedene Funktionen ausfüllen. Sowohl die folgenden Bezeichnungen als auch die dargestellten Funktionen sind als Vereinfachungen zu verstehen, um häufig hoch komplexe und individuelle Strukturen heruntergebrochen darstellen zu können. „Primärpersönlichkeiten“ können zum Beispiel für ein Funktionieren des Systems im Alltag sorgen, „Kind-Persönlichkeiten“ die traumatischen Erinnerungen bewahren und „Beschützer:innenpersönlichkeiten“ Switches beziehungsweise Wechsel der Persönlichkeitsanteile oder dissoziative Zustände initiieren (3). Insbesondere bei hoch komplexen dissoziativen Identitätsstrukturen mit sehr vielen Persönlichkeitsanteilen ist diese Unterteilung mitunter unzureichend. Welche Bezeichnungen stimmig sind, welche Rolle und welche Aufgaben einzelne Persönlichkeitsanteile oder innere Gruppen haben, sollte stets gemeinsam im Rahmen der Therapie erarbeitet werden, sofern es dem Wunsch der Patient:innen entspricht und den Therapiezielen dient. Für einen gelingenden Ausstieg aus Tatpersonengruppen ist mittel- bis langfristig insbesondere der Aufbau einer inneren Vernetzung der unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile wichtig. Dazu gehört zum Beispiel eine möglicherweise gemeinsame Entscheidung für einen Ausstieg und eine in Krisensituationen funktionierende innere Kommunikation, sodass möglichst viele Persönlichkeitsanteile „an einem Strang ziehen“ können. Wünschenswert wäre zudem, dass sich schrittweise immer mehr Persönlichkeitsanteile am Therapieprozess beteiligen. Generell ist es in angespannten Situationen wichtig, sich als Therapeut:in nicht nur auf die ängstlichen Persönlichkeitsanteile zu fokussieren, sondern das ganze System im Blick zu behalten und bei weiteren Persönlichkeitsanteilen nach Ressourcen, Ideen und Unterstützung zu fragen.

Therapieziele

Es ist wichtig, dass Therapeut:innen und Patient:innen die Therapieziele gemeinsam und sorgsam entwickeln. Ist das Ziel beispielsweise eine Stabilisierung und Entlastung oder darüber hinaus ein Ausstieg aus der Tatpersonengruppe? Wenn dem Persönlichkeitsanteil, der in der Therapie erscheint, die Traumafolgestörung und der Gewalthintergrund nicht bewusst sind, könnte dieser zunächst auch ganz andere Anliegen und Therapieziele vorbringen. Dies ist zu respektieren; Die Therapieziele sind gegebenenfalls später unter Einbezug weiterer Persönlichkeitsanteile und der neuen Kenntnislage anzupassen. Einige Patient:innen bringen die Gewalterfahrungen und die Dissoziative Identitätsstruktur gleich zu Beginn der Therapie ein. Dann können Therapeut:innen gemeinsam mit ihnen prüfen, welche therapeutischen Angebote für die Situation und Therapieziele hilfreich erscheinen. Geeignet sind dazu alle bekannten traumatherapeutischen Methoden, die auf ihre jeweilige Passung zu den Patient:innen geprüft werden müssen. Körperorientierte Verfahren sollten in Absprache mit den Betroffenen und je nach Aus- und Weiterbildung der Therapeut:innen nicht ausgeschlossen werden, da sie hilfreich für eine Entlastung der körperlichen Aspekte der Traumata sein können. Jede Trauma-Bearbeitung vermittelt den Betroffenen beziehungsweise den jeweiligen Persönlichkeitsanteilen eine neue Erfahrung, zum Beispiel, dass Hilfe und Entlastung möglich sind. Die von Tatpersonen vermittelten Ideologien und Bewertungen können hinterfragt und verändert werden. Auch nach einem gelungenen Ausstieg ist für viele Betroffene eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll. Sie müssen sich neu orientieren und eine Zukunft entwickeln, die bisher nicht möglich war. Themen können beispielsweise eine soziale und berufliche oder schulische Integration sein, eine Aufgabe zu finden oder eine Sinnhaftigkeit in der eigenen Existenz. Ängste, Schuldgefühle, Scham und vor allem Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung und Bindung zu anderen Menschen zeigen sich bei einigen Betroffenen oftmals in einer neuen Intensität, wenn das Leben freier gestaltet werden kann und Lebensentscheidungen in der eigenen Verantwortung liegen. Sich in dem eigenen, selbst gestalteten Leben integriert zu fühlen, ist für Betroffene nicht selbstverständlich, da viele berichten, dass es bisher meist um das reine Überleben ging.

Diagnostik

Das Vorliegen einer Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS) sollten Psychtherapeut:innen anhand ausgewählter diagnostischer Verfahren sorgsam prüfen. Sie können dafür beispielsweise Items des Fragebogens zu Dissoziativen Symptomen (2) oder klinisch-diagnostische Interviews für gezielte Nachfragen nutzen. Symptome, Auffälligkeiten und bereits vorhandene Erkenntnisse der Betroffenen sollten im Gespräch ohne suggestive Fragen gesammelt, beleuchtet und gemeinsam hinterfragt werden. Ein solches Vorgehen kann die Selbstwahrnehmung Betroffener zu möglichen Hintergründen stärken und somit den Erkenntnisstand erweitern, den sich Therapeut:in und Betroffene:r im Laufe der Zeit gemeinsam erarbeiten. Darüber hinaus ist es empfehlenswert, weitere psychische Auffälligkeiten diagnostisch zu erfassen und zu besprechen.


Referenzen

  1. Fliß, C. (2010): Ambulante Psychotherapie. In: Claudia Fliß, Claudia Igney (Hrsg.): Handbuch Rituelle Gewalt. Pabst Science Publisher: Lengerich, S. 270.
  2. Spitzer, C., Stieglitz, R.-D. & Freyberger, H. J. (2005). Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen. Bern: Huber.
  3. Bohlen, I. (2010): Dissoziative Identitätsstruktur. In: Claudia Fliß, Claudia Igney (Hrsg.): Handbuch Rituelle Gewalt. Pabst Science Publisher: Lengerich, S. 45f.