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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Ressourcen für helfende Fachkräfte

Es kann sehr belastend sein, Menschen zu helfen, die sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen erfahren haben oder erfahren. Das Ausmaß und die besondere Schwere der Gewalt haben Auswirkungen auf alle Menschen, die damit konfrontiert werden. Helfende brauchen sowohl Selbstfürsorge und Psychohygiene auf individueller Ebene als auch stabile und stärkende Rahmenbedingungen, um komplex traumatisierte Menschen erfolgreich unterstützen zu können. Der folgende Text beschreibt Möglichkeiten individueller Ressourcenarbeit für helfende Fachkräfte sowie wichtige Faktoren für den Aufbau gesundheitsfördernder Netzwerke. Es geht dabei vor allem um die Integration psychosozialer Ressourcen in den privaten und professionellen Alltag.

Was sind Ressourcen?

In der psychotherapeutischen Fachliteratur sind „Ressourcen“ als schützende oder fördernde Kompetenzen definiert, durch die Situationen positiv beeinflusst und negative Einflüsse reduziert werden können (1). Ressourcenorientierung ist eine Haltung, mit der die Aufmerksamkeit weg von den Defiziten und Belastungen („Was fehlt? Was ist schwer?“) hin zu den vorhandenen Ressourcen („Was ist schon da? Was gibt Kraft?“) gelenkt wird (2). Um betroffenen Personen die bestmögliche Unterstützung bieten zu können, ist es wichtig, dass auch die helfenden Fachpersonen gestärkt sind und ihre eigenen Ressourcen gut im Blick haben (3). Ein erfolgreicher Ausstieg aus organisierten sexualisierten und rituellen Gewaltstrukturen und die Einleitung eines Heilungsprozesses sind in den meisten Fällen an die Existenz eines tragfähigen Hilfesystems gekoppelt. Umso wichtiger ist, dass alle involvierten Instanzen wie das soziale Umfeld, psychosoziale Fachkräfte und Anwält:innen gut miteinander kommunizieren, füreinander sorgen und einen sicheren Rahmen kreieren.

Allgemeine Ressourcen für psychosoziale Fachkräfte

Die Mehrheit der in einer Studie befragten Therapeut:innen erlebt durch die Arbeit mit Personen, die organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt erlebt haben, deutliche Auswirkungen auf ihr psychisches Wohlbefinden und ihr berufliches wie soziales Leben (4). Gleichzeitig beschreiben viele Fachkräfte die Arbeit mit Betroffenen als sinnvoll und als Anstoß, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln (4). Sinnerleben hat eine besondere Schutzwirkung und stärkt das individuelle Wohlbefinden (5). Es ist somit empfehlenswert, viel dafür zu tun, das Sinnerleben wachzuhalten. In einer weiteren Studie gaben die psychosozialen Fachkräfte folgende Ressourcen an, die dabei helfen können, psychische Belastungen zu reduzieren (6):

  • Soziale Beziehungen zur Förderung von Austausch, Verbundenheit und Sinnerleben
  • Professionelle Unterstützung (z.B. Supervision, Intervision oder Vernetzung)
  • Sport (z.B. Yoga)
  • Freizeitaktivitäten (z.B. Musik oder Reisen)
  • Strukturen im Arbeitsalltag (z.B. Fortbildung, Pausen oder Fachliteratur)
  • Natur (z.B. Gartenarbeit oder Waldspaziergänge)
  • Spiritualität und Glaube (z.B. Meditationsübungen)
  • Selbsthilfe (z.B. Achtsamkeitsübungen)
  • Tiere (z.B. Hund oder Pferd)
  • Persönliche Stärken (z.B. Humor, Akzeptanz oder Zuversicht)
  • Sonstiges (z.B. gutes Essen oder Ruhezeiten)

Das Risiko einer Sekundärtraumatisierung

Ein wichtiger Aspekt im Kontext von Ressourcenaktivierung bei helfenden Personen ist die Sekundärtraumatisierung. Diese entsteht „ohne direkte sensorische Eindrücke des Ausgangstraumas und mit zeitlicher Distanz zum Ausgangstrauma“ im zwischenmenschlichen Kontakt (7). Anders gesagt: Menschen können sekundärtraumatisiert werden, ohne die traumatische Situation selbst erlebt zu haben. Es reicht, dass Betroffene von der Gewalt berichten. Bei einer Sekundärtraumatisierung kommt es zu einer Übertragung von posttraumatischen Stresssymptomen. Dazu gehören zum Beispiel Grübeln, visuelles Wiedererleben, Hoffnungslosigkeit und Entsetzen (8). Etwa ein Fünftel aller befragten psychosozialen Fachkräfte, die Menschen mit organisierten sexualisierten Gewalterfahrungen begleitet haben, berichteten in einer Studie über solche Symptombelastungen (4). Ob Traumatherapeut:innen eine Sekundärtraumatisierung entwickeln, scheint davon abzuhängen, wie sie auf ihre eigene akute emotionale Belastung (unbewusst) reagieren, während Betroffene ihre traumatischen Erfahrungen schildern. Viele Therapeut:innen unterdrücken währenddessen unwillkürlich ihre emotionalen und physiologischen Reaktionen. Sie geben zum Beispiel an, sich in diesen Momenten emotional taub zu fühlen, so „wie auf Autopilot“ zu handeln oder den eigenen Körper kaum wahrzunehmen (in der Fachsprache „Dissoziation“ genannt). Wenn das so ist, haben sie ein erhöhtes Risiko, eine Sekundärtraumatisierung zu entwickeln. Zudem berichten viele Therapeut:innen von Schlafstörungen, Alpträumen, erhöhter Reizbarkeit und Wachsamkeit, Konzentrationsschwierigkeiten sowie dem Gefühl konstanter Bedrohung (4,7). 

Prävention von Sekundärtraumatisierung

Eine Sekundärtraumatisierung der helfenden Fachpersonen kann im Unterstützungsprozess entstehen. Was können sie tun, um sich davor zu schützen und weiterhin hilfreich für die Betroffenen zu sein? Es wird vermutet, dass kognitive Empathie („Ich sehe deinen Schmerz, aber ich übernehme ihn nicht.“) im Gegensatz zu emotionaler Empathie („Ich fühle, was du fühlst.“) ein wichtiger Ansatzpunkt ist und zu weniger Belastungen der Helfenden führt. Darüber hinaus ist es für die helfenden Fachpersonen genauso wichtig wie für die betroffenen Personen, den Fokus auf die eigenen Ressourcen zu legen. Es ist anzunehmen, dass eine ressourcenorientierte Unterstützung die (Ausstiegs-)Begleitung erleichtert, Heilungsprozesse fördert und darüber hinaus auch das Risiko einer Sekundärtraumatisierung reduziert. Förderlich für die Prävention von Sekundärtraumatisierungen ist auch, wenn helfende Fachpersonen ein gut funktionierendes Netzwerk sozialer und professioneller Unterstützung haben. Es trägt unter anderem dazu bei, die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit präsent zu halten. Die aktuelle Forschung bestätigt, was viele psychosoziale Hilfskräfte aus eigener Erfahrung bereits kennen: (Trauma-) Therapeut:innen, die ein unterstützendes und stabiles Netzwerk durch Freunde/familiäres Umfeld und kollegialen Zusammenhalt erleben, berichten im Rahmen einer Sekundärtraumatisierung von geringeren Belastungssymptomen (9). Doch auch hier ist Vorsicht geboten. Wenn Helfende wiederum anderen Fachkräften (im Rahmen des gebotenen Datenschutzes) von traumatischen Erlebnissen aus dem Kontext organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt berichten, kann das einen Dominoeffekt auslösen. Die Belastung wird von einer Person zur nächsten weitergetragen. Dadurch wächst das Risiko für sekundärtraumatische Symptome und damit wiederum auch der Wunsch, das Leid mit anderen zu teilen. Um den positiven Effekt von Vernetzung zu bewahren, empfiehlt sich deshalb ein intensiver Austausch über die Fakten, ohne unnötig viele Details zu beschreiben, die bei den Zuhörenden innere Bilder entstehen lassen. Ohne die nötige Fachkompetenz, sachliche Aufklärungsarbeit, professionelle Unterstützung oder Supervision kann ein solcher Dominoeffekt schnell zu Überforderung führen und das Hilfesystem insgesamt schwächen.

Professionelle Ressourcen für psychosoziale Fachkräfte

Weiterhin gibt es für psychosoziale Fachkräfte Möglichkeiten, sich im professionellen Rahmen Informationen und Unterstützung einzuholen. Dabei können folgende Ressourcen hilfreich sein, um psychischen Belastungen vorzubeugen:

  • Psychoedukation über Sekundärtraumatisierung und Burn-out
  • Regelmäßiges Screening auf (sekundäre) Traumasymptome; Fragebogen kostenlos erhältlich unter: https://sekundaertraumatisierung.de/wp-content/uploads/2019/06/FSTAuswertung.pdf
  • Stress-Bewältigungsprogramme (z.B. bestehend aus Sport, Imaginationsübungen, Yoga)
  • Prozessierung des Traumamaterials (z.B. in Form von Debriefing, Supervision, Berichten oder Symbolisierungen)
  • Vernetzungs- und Fortbildungsangebote von Fachverbänden
  • Connecting the Dots – Stärkung des Helfer:innennetzwerks
  • Inanspruchnahme von traumatherapeutischer Unterstützung im Falle einer Sekundärtraumatisierung; weitere Infos zu diesem Thema unter: https://www.sekundaertraumatisierung.de

Einige Angebote zur Vernetzung, Unterstützung und Aufklärungsarbeit existieren bereits: Neben staatlich geförderten Stiftungen, wie zum Beispiel Kinderschutz-Zentren, oder kirchlich geförderten Arbeitskreisen zur Sektenforschung, entstehen zunehmend Möglichkeiten für Fachkräfte und andere Helfende, anonym online oder via Telefon (z.B. Hilfe-Telefon berta oder Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch) Informationen und Beratung zu erhalten. Vernetzungsmöglichkeiten für psychosoziale Fachpersonen werden bei mehreren Trauma-Fachverbänden angeboten. Mehr Informationen darüber finden sich unter: www.DeGPT.de , https://fachverband-traumapaedagogik.org oder https://www.dgtd.de.


Referenzen

  1. Ahbe, T. (1997): Ressourcen – Transformation – Identität. In: Keupp, H. & Höfer, R. (Hrsg.), Identitätsarbeit heute. Frankfurt.
  2. Fiedler, P. (2011): Ressourcenorientierte Psychotherapie. In: Frank, R. (Hrsg.), Therapieziel Wohlbefinden, 2. Auflage. Berlin u. Heidelberg, S. 19–31.
  3. Grawe, K. & Grawe-Gerber, M. (1999): Ressourcenaktivierung. Ein primäres Wirkprinzip der Psychotherapie. Psychotherapeut, 44, S. 63–73.
  4. Nick, S., Schröder, J., Briken, P. & Richter-Appelt, H. (2019): Organisierte und Rituelle Gewalt in Deutschland. Praxiserfahrungen, Belastungen und Bedarfe von psychosozialen Fachkräften. Trauma & Gewalt, 13(2), S. 114–127. https://doi.org/10.21706/tg-13-2-114
  5. Schnell, T. (2016): Psychologie des Lebenssinns. Berlin u. Heidelberg.
  6. Kraus, A. K., Schröder, J., Nick, S., Briken, P. & Richter-Appelt, H. (2020): Ressourcen von Betroffenen und psychosozialen Fachkräften im Kontext von organisierter und ritueller Gewalt. PTT-Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie, 24(3), S. 241–254. https://doi.org/ 21706/ptt-24-3-241
  7. Daniels, J. (2008): Sekundäre Traumatisierung – eine Interviewstudie zu berufsbedingten Belastungen von TherapeutInnen. Psychotherapeut, 53(2), S. 100–107.
  8. Daniels, J. (2003): Sekundäre Traumatisierung: kritische Prüfung eines Konstruktes anhand einer explorativen Studie (Dissertation).
  9. Hensel, J. M., Ruiz, C., Finney, C. & Dewa, C. S. (2015): Meta‐analysis of risk factors for secondary traumatic stress in therapeutic work with trauma victims. Journal of Traumatic Stress, 28(2), S. 83–91.
  10. Sachsse, U. (2004): Traumazentrierte Psychotherapie: Theorie, Klinik und Praxis. Stuttgart.