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Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen

Für sexuellen Kindesmissbrauch gibt es eine große Anzahl verschiedener Begriffe. Diese Begriffe haben sich historisch aus unterschiedlichen fachlichen Kontexten heraus entwickelt oder basieren auf bestimmten Sichtweisen auf das Thema.

Begriffsdefinitionen

Seit einigen Jahren hinterfragen viele Menschen den bisher gängigen Begriff „sexueller Missbrauch“ kritisch. Sie sehen den Begriff „Missbrauch“ als problematisch an, da er andeutet, es könnte einen ordnungsgemäßen „Gebrauch“ der betroffenen Personen geben. Zudem wird aufgrund der Formulierung für viele Menschen nicht deutlich genug, dass bei sexuellem Missbrauch in erster Linie Gewalt und nicht Sexualität im Vordergrund steht. Viele Fachpersonen sprechen daher nicht mehr von „sexuellem Missbrauch“, sondern von „sexualisierter Gewalt“ – auch wenn alle strafbaren Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Strafgesetzbuch als „sexueller Missbrauch“ bezeichnet werden. Auf dem Wissensportal verwenden wir wegen seiner Verstetigung sowohl den Begriff „sexueller Kindesmissbrauch“ als auch synonym die Formulierungen „sexuelle“ oder „sexualisierte Gewalt“. Auch der Begriff „Opfer“ steht in der Kritik. Viele Menschen verbinden damit Religiosität im Sinne von „Opfer bringen“. Für andere steht der Begriff „Opfer“ zudem als Synonym für Hilflosigkeit und Passivität. Wir bevorzugen daher den Begriff „Betroffene“.

Sexueller Kindesmissbrauch

„Sexueller Kindesmissbrauch“ bedeutet nach der Definition der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM):

„Jede sexuelle Handlung, die an, mit oder vor Kindern und Jugendlichen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können“ (1).

Bei unter 14-Jährigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie sexuellen Handlungen mit Erwachsenen nicht zustimmen können. Sie sind immer als „sexueller Kindesmissbrauch“ zu werten. Sämtliche Definitionen, die uns vorliegen, beziehen sich sowohl auf sexuelle Handlungen mit als auch ohne Körperkontakt. Sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt sind zum Beispiel das Anfertigen von Missbrauchsabbildungen oder das Masturbieren vor einem Kind oder einer jugendlichen Person. Von zentraler Bedeutung ist zudem immer, dass die Tatpersonen ein Alters-, Reife- oder Machtgefälle ausnutzen, um sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auszuüben.

Ideologien und rituelle Praktiken

„Rituelle Gewalt“ bezeichnet eine besondere Form der organisierten sexualisierten Gewalt, bei der die Tatpersonen ihr Vorgehen auf Ideologien begründen. Das können zum Beispiel bestimmte Weltanschauungen sein. Berichten zufolge zielen die Tatpersonen darauf ab, den Gewalthandlungen einen höheren Sinn zu geben, sie zu rechtfertigen und sie vor dem Hintergrund der Ideologie intensivieren zu können (6). Viele Betroffene und Helfende berichten zum Beispiel von (schein-)religiösen und/oder rechtsextremen Ideologien (7). Zudem können Ideologien auch den Zweck erfüllen, Menschen ein Gefühl von Gemeinschaft und Sinnhaftigkeit zu geben, um sie so an die Gruppe der Tatpersonen zu binden. Ob die Täter und Täterinnen selbst an die beschriebenen Ideologien glauben oder ob sie diese eher strategisch anwenden, konnte bisher wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt werden. Als sogenannte rituelle Praktiken im Zusammenhang mit Ideologien beschreiben Betroffene das Leben nach bestimmten, an der Ideologie ausgerichteten Regeln sowie sich wiederholende Abläufe, Gesten, Rituale und Zeremonien (5). Berichte von Betroffenen legen nahe, dass Ideologien und rituelle Praktiken im Kontext von organisierter sexualisierter Gewalt besonders häufig generationsübergreifend in Familien vorkommen und durch eine stärkere Gewaltintensität charakterisiert sind (7).

Organisierte sexualisierte Gewalt

In unserem Kontext sprechen wir von „organisierter sexualisierter Gewalt“, wenn es ein Netzwerk von Tatpersonen gibt, die Kinder und Jugendliche teilweise bis ins Erwachsenenalter hinein strategisch sexuell ausbeuten (2). Das Ziel dieser Netzwerke und Strukturen ist meistens ein finanzieller Gewinn. Diesen erzielen die Täter und Täterinnen durch Zwangsprostitution und die Produktion von Missbrauchsabbildungen, sogenannte Kinderpornografie (3). Sowohl Betroffene als auch Helfende schildern, dass Tatpersonen teilweise über Vernetzungen in einflussreiche Machtstrukturen verfügen und psychische Manipulationsstrategien anwenden. Dazu gehört zum Beispiel, betroffene Personen zu überwachen, zu bedrohen, durch Mittäter:innenschaft zu erpressen und durch inszenierte Ereignisse zu täuschen. Die Manipulationsstrategien hätten unter anderem zum Ziel, dass Betroffene sich an strenge Regeln halten, über die Geschehnisse schweigen oder unglaubwürdig wirken (4). Neben sexualisierter Gewalt und der beschriebenen psychischen Gewalt berichten Betroffene und Helfende gleichermaßen von massiver körperlicher Gewalt. Dazu gehören zum Beispiel Folter und die Verabreichung von Drogen. Auch das soll Betroffene von Widerstand abhalten (5).


Referenzen

  1. Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2022): Definition von sexuellem Missbrauch. https://beauftragte-missbrauch.de/praevention/was-ist-sexueller-missbrauch/definition-von-sexuellem-missbrauch (Abruf 29.05.2022).
  2. Salter, M. & Richters, J. (2012): Organised abuse: A neglected category of sexual abuse with significant lifetime mental healthcare sequelae. Journal of Mental Health, 21(5), S. 499–508. https://doi.org/10.3109/09638237.2012.682264
  3. Fachkreis „Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ beim BMFSFJ (2018): Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen. Prävention, Intervention und Hilfe für Betroffene stärken. Empfehlungen an Politik und Gesellschaft. Berlin. https://www.bundeskoordinierung.de/kontext/controllers/document.php/155.b/a/be8025.pdf (Abruf 10.07.2021).
  4. Schröder, J., Behrendt, P., Nick, S. & Briken, P. (2020): Was erschwert die Aufdeckung organisierter und ritueller Gewaltstrukturen? Eine qualitative Inhaltsanalyse der Erlebnisberichte von Betroffenen und ZeitzeugInnen. Psychiatrische Praxis, 47(5), S. 249–259. https://doi.org/10.1055/a-1123-3064
  5. Behrendt, P., Schröder, J., Nick, S. & Briken, P. (2020): Was ist sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen? Eine qualitative Inhaltsanalyse der Erfahrungsberichte von Betroffenen. Zeitschrift für Sexualforschung, 33(2), S. 70–87. https://doi.org/10.1055/a-1160-3976
  6. Salter, M. (2012): The role of ritual in the organised abuse of children. Child Abuse Review, 21(6), S. 440–451. https://doi.org/10.1002/car.2215
  7. Schröder, J., Nick, S., Richter-Appelt, H. & Briken, P. (2020): Demystifying ritual abuse – insights by self-identified victims and health care professionals. Journal of Trauma and Dissociation, 21(3), S. 349–364. https://doi.org/10.1080/15299732.2020.1719260