Viele Betroffene berichten, dass der Ausstieg aus den Strukturen organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt eine sehr große Herausforderung für Sie darstellt. Zum einen erleben viele Betroffene wie auch Fachkräfte, dass Tatpersonen Druck ausüben und versuchen, den Ausstieg zu verhindern. Zum anderen ist die Versorgungssituation und damit die Unterstützung für Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt noch immer unzureichend. Der folgende Text geht auf beide Aspekte ein und beschreibt darüber hinaus, was aus Sicht der Praxis beim Ausstieg helfen kann.
Um den Ausstieg aus organisierten sexualisierten und rituellen Gewaltstrukturen anzugehen, ist Begleitung hilfreich. Effektive Unterstützung erfahren Betroffene sowohl durch helfende Personen aus ihrem nahen Umfeld wie zum Beispiel Freund:innen und Partner:innen als auch durch informierte Fachpersonen wie Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen, Berater:innen oder Rechtsanwält:innen. Die Art, der Umfang und die Dauer der erforderlichen Ausstiegsbegleitung sind individuell und abhängig von den jeweiligen Bedürfnissen der Aussteigenden (5). Eine begleitende und unterstützende Psychotherapie ist für den äußeren und inneren Ausstieg und auch darüber hinaus in der Regel hilfreich und notwendig.
„Um bei einem Ausstieg überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben, ist für das betroffene System eine begleitende Psychotherapie unbedingt nötig, um zum einen die extrem belastende Lebensgeschichte zu verarbeiten und noch unbekannte Personen im System ausfindig zu machen und orientieren zu können […].“
Im Rahmen eines Ausstiegs sollten Helfende insbesondere auf selbstverletzende und suizidale Verhaltensweisen bei Betroffenen achten. Sie müssen damit rechnen, dass Tatpersonen versuchen könnten, die Kontrolle über die betroffene Person aufrechtzuerhalten oder zurückzuerlangen und suizidales Verhalten zu provozieren (10).
Der Ausstiegsprozess ist häufig ein jahrelanger und für viele Betroffene ein phasenweise lebensbedrohlicher Prozess. Zusätzliche Belastungen entstehen durch unzureichende Versorgungsstrukturen.
„Leider gibt es bis heute eigentlich kein brauchbares Netzwerk, was geeignete Hilfe für einen Ausstieg aus so einem Kult bietet! […] Psychotherapie ist harte Arbeit und oftmals die einzige Möglichkeit für Betroffene, wenigstens eine Verbesserung ihrer Lebensqualität und Leidenssituation zu erlangen. Gerade für komplex traumatisierte Betroffene ist die von den Krankenkassen übernommene Stundenzahl fast lächerlich gering.“
Hinzu kommen gesellschaftliche Hürden, beispielsweise durch eine zu geringe Aufklärung innerhalb der Gesellschaft und starkes Misstrauen gegenüber den Betroffenen und deren Erzählungen. Infolgedessen fühlen sich Betroffene häufig ausgeschlossen und haben den Eindruck, nicht integrierbar zu sein.
„Wir wollen da ja auch raus. Aber uns wird es so schwer gemacht, auch da rauszukommen. Nicht nur durch die Sekte, sondern auch durch die Gesellschaft.“
Der äußere und innere Ausstieg folgen nicht zeitlich oder chronologisch aufeinander, sondern bedingen sich gegenseitig und sind miteinander verzahnt. In anderen Worten: Der innere Ausstieg setzt nicht voraus, dass der äußere Ausstieg komplett bewältigt worden ist. Meist laufen die Prozesse zeitlich parallel.
Zum inneren Ausstieg gehören verschiedene Maßnahmen, welche die Betroffenen psychisch stabilisieren. Es kann darum gehen, dissoziative Barrieren der Betroffenen zu verringern, einen Umgang mit den Symptomen von Traumafolgestörungen zu erlernen sowie sich von (Pseudo-)Ideologien loszulösen und neu zu orientieren (5). Selbst wenn der äußere Ausstieg zunächst gelingt, stellt der innere Ausstieg weiterhin eine große Herausforderung für viele Betroffene dar, die häufig berichten, seit frühester Kindheit an die Tatpersonen und/oder die Ideologie der Tatpersonengruppe gebunden zu sein (5). Würden die erlernten Werte- und Normensysteme wegfallen, könne dies zu einer spirituellen und sozialen Leere und auch zu einer Überforderung in der „normalen“ Welt führen (9).
„Wir sind da ja quasi aufgewachsen über Jahre, und das war die Normalität. Das war einfach ganz normal. Und dann irgendwann zu kapieren, dass es nicht normal ist, das war echt ein Weg. Also das klingt verrückt, aber das war tatsächlich ein Weg zu verstehen, dass es nicht die Normalität ist, dass es die Ausnahme ist, sozusagen.“
Die oftmals entstehende Leere aufgrund des inneren Ausstieges kann von Betroffenen bedrohlich erlebt werden oder den äußeren wie inneren Ausstieg verhindern. Neben der Arbeit am Ausstieg kann es daher hilfreich sein, wenn sich die Betroffenen regelmäßig den bereits vorhandenen Ressourcen, der Gestaltung des gegenwärtigen Lebens sowie ihren Lebensträumen und ihrer Lebensplanung zuwenden. Die Hoffnung auf ein eigenes, lebenswertes Leben, eine empfundene Sinnhaftigkeit in der eigenen Existenz und das Vertrauen in die eigenen Stärken sind für viele Betroffene ausgesprochen wichtig. So können sie dem Wunsch nach Kontakt zur Tatpersonengruppe und dem Gefühl der Leere entgegenwirken, das möglicherweise durch den Wegfall der bisherigen Werte- und Normensysteme sowie der vielen bisher vertrauten Personen entstanden ist.
Das „Hilfe-Telefon berta“ unterstützt kostenfrei und vertraulich bei organisierter und ritueller Gewalt: 0800 30 50 750. Die Beratungszeiten sind immer dienstags von 16 bis 19 Uhr sowie mittwochs und freitags von 9 bis 13 Uhr. Weitere Informationen zu diesem Angebot stehen auf der Website.
Um diese zu bewältigen, brauchen sie erfahrungsgemäß eine intensive Begleitung durch ein Netzwerk von Unterstützer:innen. Ebenso wünschenswert ist eine Sensibilisierung der Gesellschaft sowie verbesserte interdisziplinäre Versorgungsstrukturen und Schutzräume. Kurzum: Betroffene Personen brauchen Unterstützung, damit der Ausstieg gelingen kann. Beratung beim Thema Ausstieg bietet zum Beispiel das „Hilfe-Telefon berta“.
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