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Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen

Der folgende Text gibt einen Überblick über die Symptome, die Ursachen und die Behandlungsmöglichkeiten der Komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Diese stellt eine häufige Folge von schweren Traumatisierungen dar, zum Beispiel im Kontext von sexualisierter Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen.

Traumatisierung

Ein Trauma ist ein Ereignis, das die Bewältigungsmöglichkeiten eines Menschen zunächst übersteigt. Es erschüttert die grundlegenden Konzepte der eigenen Sicherheit, der Weltsicht und des Selbsterlebens. Die Auslöser können sehr unterschiedlich sein und sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark auswirken. Um ein Beispiel zu geben: Viele Menschen, die Gewalt erfahren oder beobachten, erleiden durch diese Erfahrung mehr oder weniger starke psychische Belastungen. Gewalterfahrungen wirken sich aber nicht zwangsläufig traumatisierend aus. Es gibt auch Menschen, die Gewalt erfahren oder beobachtet haben, ohne anschließend traumatisiert zu sein beziehungsweise eine Traumafolgestörung zu entwickeln.

Kein noch so schreckliches Ereignis ist aus sich heraus traumatisierend. Deshalb wird auch von potenziell traumatischen Ereignissen gesprochen. Das heißt konkret: Ereignisse können traumatisierend sein, müssen es aber nicht. Das psychologisch-psychiatrische Klassifikationssystem für psychische Störungen DSM-5 (1) listet sexuelle Gewalt gleichberechtigt neben drohendem Tod und tatsächlicher oder zu befürchtender Verletzung als potenziell traumatisierendes Erlebnis auf. Das bedeutet, sexuelle Gewalt, die erlebt oder beobachtet wird, ist genauso wie ein drohender Tod als potenziell traumatisches Ereignis anerkannt. Ob sich ein potenziell traumatisierendes Ereignis traumatisierend auswirkt, hängt unter anderem davon ab, wie die Betroffenen das Ereignis erleben, bewerten und verarbeiten können und ob und wie sie dabei Unterstützung erfahren.

Eine häufige unbewusste Bewältigungsstrategie bei traumatischen Ereignissen ist die Dissoziation. Dies meint das Ausblenden von Erinnerungen und Empfindungen, die mit dem traumatischen Ereignis zusammenhängen. Durch Dissoziation kann sich ein Mensch nach einer Gewalttat zunächst wenig oder gar nicht belastet und stattdessen nur wie betäubt fühlen. Dennoch kann es infolge der Gewalterfahrung im weiteren Verlauf zu einer psychischen Belastung kommen. Ein besonders wichtiger Schutzfaktor gegen die Entwicklung von Traumafolgestörungen ist, wenn die betroffene Person Unterstützung von Familienmitgliedern, Freund:innen oder Institutionen erhält (2).

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Traumatische Ereignisse können bei betroffenen Personen verschiedene psychische Symptome hervorrufen. Viele Betroffene stehen unter andauerndem Stress und Anspannung (Hyperarousal), leiden unter ungewollten, belastenden und oft sehr erlebensnahen Wiedererinnerungen (sogenannte Intrusionen und Flashbacks) und versuchen Gedanken an das Geschehene zu vermeiden (3). In vielen Fällen verschwinden die Symptome nach einiger Zeit. Passiert dies nicht, spricht man von einer PTBS. Hierbei spielt das Auftreten von Dissoziation eine wichtige Rolle. Dissoziation kann in der traumatischen Situation hilfreich sein, da das Erleben der Situation durch eine erhöhte Aktivität des Stress-Systems von der bewussten Wahrnehmung abgespalten wird. Gleichzeitig erschwert Dissoziation die psychische Verarbeitung des Ereignisses. Sinneseindrücke, wie zum Beispiel Bilder, Gerüche oder Schmerzen, werden in diesem Fall nicht zusammenhängend in das sogenannte explizite Gedächtnis integriert, sondern von der betroffenen Person als zusammenhanglose Sinneseindrücke im sogenannten impliziten Gedächtnis abgespeichert. Bildhaft gesprochen bleiben die Erinnerungen also – wie bei einem unfertigen Puzzle – einzelne, unzusammenhängende Teile. Diese im impliziten Gedächtnis gespeicherten Erinnerungsfragmente können Einfluss auf das Erleben und Verhalten der betroffenen Person haben, ohne dabei in das explizite Bewusstsein zu treten (4) – also ohne, dass die betroffenen Personen merken, dass sie von diesen Erinnerungsfragmenten weiterhin beeinflusst werden. So können die Fragmente im impliziten Gedächtnis beispielsweise durch Trigger erneut aktiviert werden. Trigger sind innere und äußere Auslösereize wie Bilder, Gedanken oder Sinneseindrücke, welche die Betroffenen unwillkürlich an die zurückliegenden Geschehnisse erinnern. Es kann dabei zu einem emotionalen Wiedererleben der traumatischen Situation kommen. Die Betroffenen haben einen sogenannten Flashback (5,6) – eine Nachhallerinnerung. Flashbacks können ausgesprochen belastend sein. Betroffene können im Moment des Flashbacks nicht zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen unterscheiden. Gleichzeitig verhindert die dissoziative Barriere das aktive Abrufen von Erinnerungen an die Gewaltsituation oft für lange Zeit, sodass diese außerhalb des bewussten Erinnerungsvermögens bleiben (7,8). Dadurch entsteht eine häufig schwer nachvollziehbare Kombination von Übererinnern (Intrusion) und Nichterinnern (Dissoziation).

Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS)

Eine Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) kann durch frühe, sehr schwere und lang andauernde Traumatisierungen ausgelöst werden. Das Spektrum der Symptome einer KPTBS geht über die Symptome der PTBS hinaus. Hier spielen zusätzlich das Erleben von extremer Hilflosigkeit, Demütigung, erschütterte Grundannahmen über den Wert der eigenen Person und die Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen eine Rolle. Die Symptome einer KPTBS können individuell unterschiedlich sein, wobei für eine Diagnose folgende Symptome relevant sind (9):

  • Störungen der Regulation von Emotionen und Impulsen (z.B. Stimmungsschwankungen, Aggressionen, selbstverletzendes Verhalten, Störungen im Bereich der Sexualität, Risikoverhalten und Suizidalität)
  • Bewusstseins- und Wahrnehmungsstörungen (z.B. dissoziative Episoden und Gedächtnisstörungen)
  • Störungen der Selbstwahrnehmung (z.B. unzureichende Selbstfürsorge, Scham- und Schuldgefühle sowie das Gefühl, von der Umwelt isoliert zu sein)
  • Veränderte Lebenseinstellungen (z.B. Verlust von persönlichen Überzeugungen, Werten und Zukunftsperspektiven)
  • Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Körperliche Beschwerden ohne eine klare körperliche Ursache

Weitere mögliche Probleme im Zusammenhang mit schweren Traumatisierungen

Für Betroffene ist eine Traumatisierung in der Regel mit dem Gefühl starker Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden. Gleichzeitig geben sich viele selbst die Schuld an den Geschehnissen – obwohl diese einzig bei der Tatperson liegt. Selbstbeschuldigung kann bei Gewalterfahrungen auch ein Versuch sein, der Hilflosigkeit und Ohnmacht zu entkommen: Die Betroffenen gewinnen eine vermeintliche Art von Kontrolle über die Situation zurück. Insbesondere bei betroffenen Kindern kann Selbstbeschuldigung bewirken, dass sie die Beziehung zu gewalttätigen Bezugspersonen auch emotional aufrechterhalten können. In anderen Worten: Wenn Kinder von einer gewalttätigen Person abhängig sind, stellt diese Strategie einen Versuch dar, den eigentlich unerträglichen Kontakt erträglich zu machen. Neben der Selbstbeschuldigung als eine Form des Selbstschutzes, wird den meisten Betroffenen auch von Seiten der Tatpersonen eine Mitschuld an den Geschehnissen gegeben. Scham- und Schuldgefühle können es betroffenen Personen schwermachen, die Taten aufzudecken und sich Unterstützung und eine professionelle Behandlung zu suchen. Häufig setzen Tatpersonen Betroffene unter Druck und drohen ihnen mit schlimmen Konsequenzen, sollten sie über die Erfahrungen mit anderen Menschen sprechen. Diese Drohungen wirken besonders bei Kindern, die sexualisierte Gewalt erfahren, und bei erwachsenen Betroffenen, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend traumatisiert wurden. Sie können dazu führen, dass die Betroffenen es als unmöglich erleben, sich Unterstützung zu suchen oder sich der Tatperson zu widersetzen. Die Gewalt kann häufig nur wie betäubt ertragen werden. Betroffene beugen sich den Forderungen der Tatperson, beispielsweise um sich selbst oder andere Personen vor Bestrafung zu schützen. Solche Dynamiken können in der Folge zu anhaltenden Veränderungen in der Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen und instabilen Beziehungsmustern führen. Diese wiederum erhöhen das Risiko, im Erwachsenenalter weitere Gewalterfahrungen zu erleben, zum Beispiel in einer Partnerschaft. Menschen, die sexuelle Gewalt in der Kindheit oder im Erwachsenenalter erlebt haben, haben ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Persönlichkeitsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen (10,11).

Behandlung von (Komplexen) Posttraumatischen Belastungsstörungen

Um das Trauma zu bewältigen, müssen Betroffene verstehen können, warum die beschriebenen Symptome auftreten und dass sie veränderbar sind. Traumabewältigung bedeutet, die wegdissoziierten Fragmente wie in einem Puzzle zusammenzubringen, sie zeitlich einzuordnen und in einen Kontext zu stellen, um sie nach heutigen, realistischen Maßstäben zu bewerten. So lassen sich die Trauma-Erinnerungen mit dem Alltagsbewusstsein verbinden und werden zu einer Erfahrung, an die man sich erinnern kann, ohne überwältigt zu werden (12). Für die KPTBS gibt es Behandlungsmethoden, die in wissenschaftlichen Studien Wirksamkeit gezeigt haben (13). Hierunter fallen zum Beispiel die kognitive Verarbeitungstherapie (14), EMDR (15) oder die Narrative Expositionstherapie (16). Es gibt Studien, die nahelegen, dass auch Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution von diesen manualisierten Behandlungsmethoden – das heißt Behandlungsmethoden, in denen die Einzelschritte in einem Handbuch festgehalten sind – profitieren (17,18).  Für die Wirksamkeit bei Betroffenen von ritueller Gewalt gibt es bislang noch keine wissenschaftlichen Belege. Eine aktuelle Befragung hat ergeben, dass Psychotherapeut:innen mit Erfahrung bei der Behandlung der Folgen organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt in Deutschland manualisierte Therapien als weniger wirksam erachten und seltener anwenden. Stattdessen scheinen Stabilisierungsübungen, Imaginationsübungen und – sofern die betroffene Person eine dissoziative Identitätsstruktur hat – die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen im Fokus zu stehen (19).

Die Wirksamkeit der unterschiedlichen Therapieansätze und Therapiemethoden bei Betroffenen aus organisierten sexualisierten und rituellen Gewaltstrukturen ist bisher kaum erforscht. In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass hier die besonders frühen, massiven und überdauernden Traumatisierungen von zentraler Bedeutung für den therapeutischen Prozess sind und entsprechende Berücksichtigung und Aufmerksamkeit erfahren müssen. Die Anwendung einzelner therapeutischer Methoden sollte stets in den individuellen psychotherapeutischen Prozess sowie eine psychotherapeutische Arbeit auf der Beziehungsebene eingebettet sein und gemeinsam vereinbarte Therapieziele verfolgen.


Referenzen

  1. American Psychiatric Association (2013): Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 5. https://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425596
  2. Tremblay, C., Hébert, M. & Piché, C. (1999): Coping strategies and social support as mediators of consequences in child sexual abuse victims. Child Abuse & Neglect, 23(9), S. 929–945.
  3. First, M. B., Gaebel, W., Maj, M., Stein, D. J., Kogan, C. S., Saunders, J. B., . . . Reed, G. M. (2021): An organization- and category-level comparison of diagnostic requirements for mental disorders in ICD-11 and DSM-5. World Psychiatry, 20(1), S. 34–51. https://doi.org/10.1002/wps.20825
  4. Gysi, J. & Rüegger, P. (2018): Handbuch sexualisierte Gewalt. Therapie, Prävention und Strafverfolgung, 1. Auflage. Bern.
  5. Nijenhuis, E. R. S. (2006): Somatoforme Dissoziation. Phänomene, Messung und theoretische Aspekte. Reihe Fachbuch Traumaforschung. Paderborn.
  6. Wöller, W. (2006): Trauma und Persönlichkeitsstörungen. Psychodynamisch-integrative Therapie (RPT) traumabedingter Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart.
  7. Stang, K. & Sachsse, U. (2014): Trauma und Justiz. Juristische Grundlagen für Psychotherapeuten – psychotherapeutische Grundlagen für Juristen, 2. Auflage. Stuttgart.
  8. Van der Kolk, B., McFarlane, A. & Weisaeth, L. (2000): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Paderborn.
  9. Sack, M. (2004): Diagnostische und klinische Aspekte der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Nervenarzt, 75, S. 451–459.
  10. Spataro, J., Mullen, P. E., Burgess, P. M., Wells, D. L. & Moss, S. A. (2004): Impact of child sexual abuse on mental health. Prospective study in males and females. The British Journal of Psychiatry, 184(5), S. 416–421.
  11. Bryant, R. A., O’Donnell, M. L., Creamer, M., McFarlane, A. C., Clark, C. R. & Silove, D. (2010): The psychiatric sequelae of traumatic injury. American Journal of Psychiatry, 167(3), S. 312–320.
  12. Reemtsma, J. P. (2018): Im Keller, 7. Auflage. Reinbek bei Hamburg.
  13. Karatzias, T., Murphy, P., Cloitre, M., Bisson, J., Roberts, N., Shevlin, M., Hyland, P., Maercker, A., Ben-Ezra, M., Coventry, P., Mason-Roberts, S., Bradley, A. & Hutton, P. (2019): Psychological interventions for ICD-11 complex PTSD symptoms. Systematic review and meta-analysis. Psychological Medicine, 49(11), S. 1761–1775.
  14. König, J., Resick, P. A., Karl, R. & Rosner, R. (2012): Posttraumatische Belastungsstörung. Ein Manual zur Cognitive Processing Therapy. Göttingen.
  15. Böhm, K. (2016): EMDR in der Psychotherapie der PTBS. Traumatherapie praktisch umsetzen. Berlin.
  16. Siehl, S., Robjant, K. & Crombach, A. (2020): Systematic review and meta-analyses of the long-term efficacy of narrative exposure therapy for adults, children and perpetrators. Psychotherapy Research, 31(6), S. 695–710.
  17. Salami, T., Gordon, M., Coverdale, J. & Nguyen, P. T. (2018): What therapies are favored in the treatment of the psychological sequelae of trauma in human trafficking victims? Journal of Psychiatric Practice, 24(2), S. 87–96.
  18. Edmond, T. (2018): Evidence-Based Trauma Treatments for Survivors of Sex Trafficking and Commercial Sexual Exploitation. In: Nichols, A. J., Edmond T. & Heil, E. C. (Hrsg.), Social Work Practice with Survivors of Sex Trafficking and Commercial Sexual Exploitation. New York, S. 70–96.
  19. Nick, S., Schröder, J., Briken, P., Metzner, F., & Richter-Appelt, H. (2022). Organisierte und Rituelle Gewalt in Deutschland–die psychotherapeutische Behandlung von Betroffenen. Trauma & Gewalt, 16(1), S. 40-57.