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Die Verdrängung sexueller Ausbeutung

Das beschriebene wiederkehrende Leugnen spiegelt sich allgemein in den Debatten um sexuellen Kindesmissbrauch und Menschenhandel mit Kindern wider. Stereotyp gilt der:die Pädophile als verbohrt, abnormal, homosexuell. Er:Sie missbrauche eher mehrere Kinder und teile diese auch mit anderen Tatpersonen (Willis, 1993). Im Gegensatz dazu werden Tatpersonen teils auch als „Zurückgebliebene“ gesehen, deren Vergehen weniger häufig und schwerwiegend „im Kontext normaler sexueller Präferenzen“ seien (Howells, 1981). Hieraus wird eine klare Unterscheidung im Diskurs zwischen sexualisierter Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie, sowie durch homo- versus heterosexuelle Tatpersonen deutlich (Groth & Birnbaum, 1979). Diese Betrachtung stellt ein Problem dar: Wenn strafrechtliche Behören sexuellen Kindesmissbrauch nur unter dem Blickwinkel psychischer Störungen betrachten, dann werden andere der organisierten Gewalt zugrundeliegende Faktoren, wie etwa finanzieller Profit, soziale Bindungen und Kontrollausübung innerhalb der Familie, unsichtbar gemacht. Sich nur auf pädophile, homosexuelle, männliche Tatpersonen außerhalb der Familie zu fokussieren, umgeht gesellschaftlich unangenehme Fragen zu sexualisierter Gewalt innerhalb der Familie und zur Häufigkeit von auf Kinder bezogenen, sexuellen Neigungen in der Gesellschaft. Zahlen zur Verbreitung sogenannter Kinderpornografie und Studien an hierzu legen nahe, dass diese Neigungen relativ häufig sind (z.B. Crepault & Couture, 1980; Briere, 1989; Hall et al., 1995; National Center for Missing and Exploited Children, 2003). Es ist also davon auszugehen, dass männliche Tatpersonen nicht nur aktive Konsumenten eines sexuellen Handels mit Kindern sind, sondern dass es dahinterstehende profitorientierte, organisierte Netzwerke gibt, die jene Interessen bedienen.

In der westlichen Welt wurde organisierte Gewalt, Prostitution und sexuelle Ausbeutung von Kindern bislang nur wenig untersucht. Dieser Mangel an Information und Konsens kann auch darauf zurückgeführt werden, dass es an einem einheitlichen Vokabular zur Beschreibung fehlt: Tatpersonengruppen werden z.B. als „Sexringe“ (Burgess et al., 1984), „poly-inzestuöse Familien“ (Faller, 1991), „trauma-organisierte Systeme“ (Bentovim, 1992) usw. bezeichnet. Jeder dieser Begriffe stellt nur bestimmte Aspekte heraus und vernachlässigt dabei die komplexen Verbindungen bei sexualisierter Gewalt durch Tatpersonengruppen. Über die Natur jener Gruppen sowie die Erfahrungen von betroffenen Kindern ist nur wenig bekannt. Was wir wissen, stammt hauptsächlich aus Befragungen behandelnder Fachpersonen oder aus klinischen Symptomberichten weniger Betroffener. Selten wurden Betroffene offen befragt, um die komplexen Dynamiken bei organisierter Gewalt und das Innenleben der Tatpersonengruppen zu ergründen.

Aus jenem Mangel an fundierten Daten heraus gründete die australische Regierung 1996 eine Pädophilie-Kommission, die ein spekulatives Modell zu „organisierter Pädophilie“ entwickelte. Sexualisierte Gewalt innerhalb und außerhalb von Familien wurde strikt voneinander getrennt; der Fokus der Untersuchungen lag hauptsächlich auf homosexuellen männlichen Tatpersonen, die männliche Kinder missbrauchten (Cossins, 1999), obwohl der Kommission auch andere Fälle, z.B. mit weiblichen Betroffenen, bekannt waren. Man war zu jener Zeit gemeinhin überzeugt, dass sexualisierte Gewalt innerhalb der Familie weniger aggressiv sei und relativ harmlose Sexualakte umfasse (Stermac et al., 1989). Sadistische sexualisierte Gewalt passte nicht in jenes Bild von Elternschaft, Familie und der Gesellschaft im Großen und Ganzen, sodass dahingehende Berichte abgewiesen wurden. Generell besteht bei politischen Entscheidungsträgern und Strafverfolgungsbehörden im Westen eine mangelnde Bereitschaft, Formen der sexualisierten Gewalt in Betracht zu ziehen, die ihre grundlegenden Annahmen über die Beschaffenheit und Berechenbarkeit ihrer sozialen Welt infrage stellen.

Berichte über sexualisierte Gewalt durch mehrere Tatpersonen wirken emotional wie eine Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit – eine Bedrohung, die im westlichen Denken in einem Gegensatz zur Ordnung und Sicherheit entwickelter Staaten steht und die deshalb in den Ländern der Dritten Welt verortet wird. Diese Unterscheidung wird durch Berichte über organisierte und rituelle Gewalt herausgefordert, die jene Bedrohung in unseren durch Werte geregelten Räumen des Alltags, wie in der Familie oder in Kinderbetreuungsstätten, ansiedeln. Dies verdeutlicht sich in der Strafverfolgung und der medialen Berichterstattung, wo mit ritueller Gewalt je nach ethnischem Hintergrund der Tatpersonen deutlich unterschiedlich umgegangen wird. Auf Fälle ritueller Gewalt durch indigene Tatpersonengruppen in Australien und in afrikanisch-migrantischen Communities in Großbritannien reagierten Behörden und Medien schnell und umfassend (z.B. Jones, 2006; Khadem, 2006; Clayton, 2004; Vallely 2005). Bei sexualisierter Gewalt durch Gruppen weißer ritueller Tatpersonen in jenen Regionen war dies jedoch nicht der Fall (z.B. Brindle, 1990; Shaw, 1993; Oberhardt & Keim, 2004). Diese Unterscheidung setzt sich international fort, indem beispielsweise die UN „den Missbrauch einiger ritueller Praktiken zur Einschüchterung von weiblichen und kindlichen Opfern des Menschenhandels“ zur Forschungspriorität erklärte (Committee of Human Rights, 2002) und auch andere internationale Organisationen Verbindungen zwischen ritueller Gewalt und Menschenhandel in Entwicklungsländern herstellten (Beddoe, 2005; UN Children’s Fund, 2005; Amnesty International UK, 2006). Allein die International Organisation of Migration (IOM, 2001) beschreibt rituelle Gewalt auch in westlichen Ländern. Diese Unterscheidung zwischen westlichen und Entwicklungsländern könnte auf die tiefgreifende Fokussierung auf die westlichen kulturellen Werte zurückzuführen sein: Rituelle und sadistische Formen der Gewalt werden so auf rassistische Weise als kulturell „andersartig“ empfunden.

Auf verschiedenen Ebenen wurde die Problematik organisierter und ritueller Gewalt auf homosexuelle Männer, schwarze Communities und Entwicklungsländer verschoben. Hierin verbergen sich tiefverwurzelte homophobe und rassistische Vorurteile. Der Diskurs um rituelle Gewalt macht sich in dieser Verschiebung mitschuldig, indem die Rolle von Kulten und perverser Religiosität überbetont und die der vielschichtigen sexualisierten Gewalt in der Familie und der kommerziellen sexuellen Ausbeutung unterbetont werden.