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Die Rolle des Rituellen bei sexueller Gewalt in organisierten Strukturen

Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine inoffizielle Übersetzung und Zusammenfassung des Originalartikels:

Salter, M. (2012). The Role of Ritual in the Organised Abuse of Children. Child Abuse Review, 21(6), 440-451.

Zusammenfassung

In den letzten 30 Jahren wurde in Jugendschutzfällen und Gerichtsverfahren sowie in der Psychotherapie von Erwachsenen sexueller Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen (ORG) offengelegt. Diese Berichte wurden von vielen klinisch und wissenschaftlich arbeitenden Personen mit Skepsis aufgenommen. Dieser Artikel basiert auf der inhaltsanalytischen Auswertung von Interviews mit 16 Erwachsenen, die angeben, in ihrer Kindheit ORG erlebt zu haben. Die Ergebnisse legen nahe, dass „rituelle“ Gewalt als eine Strategie angesehen werden kann, um sexuelle Gewalt zu rechtfertigen und betroffene Personen unter Druck zu setzen und an die Tatpersonen-Gruppe zu binden.

Einleitung

Betroffene von organisierter Gewalt werden in der psychischen Gesundheitsversorgung, z.B. bei Beratungsstellen oder in psychotherapeutischer Behandlung, vorstellig (Briere, 1988; Gold et al., 1996; McClellan et al., 1995). Im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt durch mehrere Tatpersonen wird im Vergleich zu Einzeltatpersonen Folgendes häufiger berichtet: ein früherer Beginn der sexualisierten Gewalt, häufigere Übergriffe, eine längere Dauer der sexualisierten Gewalt, ein häufigerer Einsatz von körperlicher Gewalt, Drohungen und Drogen, sowie intensivere Gewaltformen (Casey & Nurius, 2005; Finkelhor & Williams, 1988; Long & Jackson, 1991).

In einer Analyse der Fälle von organisierter Gewalt, die britischen Jugendschutzbehörden Anfang der 1990er-Jahre gemeldet wurden, haben Gallagher et al. (1996) organisierte Gewalt als selten, aber extrem beschrieben, einschließlich bizarrer oder sadistischer (Sadismus, sadistisch: Empfinden von Lust/Befriedigung durch Demütigung anderer, z.B. durch das Zufügen körperlicher Schmerzen) Praktiken, wie beispielsweise der Zwang, Exkremente essen zu müssen (S. 227). Solche Praktiken im Zusammenhang mit organisierter Gewalt werden als „rituelle Gewalt“ bezeichnet, bei dem Tatpersonen betroffenen Personen auf rituelle oder zeremonielle Weise sexuelle Gewalt zufügen (McFadyen et al., 1993).

Die Aufdeckung von ritueller Gewalt wurde in den 1980er-Jahren erstmals im Rahmen von Jugendschutzuntersuchungen und später von Kindern und Erwachsenen in der Psychotherapie bekannt (Hechler, 1988). Weiterhin wurde rituelle Gewalt bei strafrechtlichen Ermittlungen in Nordamerika (Gyan, 2010; Lemoine, 2008a, 2008b), Großbritannien und Europa (de Bruxelles, 2011; Kelly, 1998), sowie bei afrikanischen und europäischen Kinderhandelsnetzwerken dokumentiert (Internationale Organisation für Migration, 2001). Dennoch wird eine Diskrepanz zwischen den Ansichten psychosozialer Fachpersonen, welche mit Betroffenen arbeiten, und den Ansichten von Wissenschaftler:innen und Journalist:innen, die über solche Fälle berichten, zu diesem Thema deutlich. Psychosoziale Fachpersonen in Großbritannien, den USA und Australien berichteten, dass einige unter ihnen bereits Kontakt mit mindestens einem Klienten oder einer Klientin mit ritueller Gewalterfahrung hatten; die meisten nahmen solche Berichte ernst (Andrews et al., 1995; Bottoms et al., 1996; Schmuttermaier & Veno, 1999). Im Gegensatz dazu wurde die Existenz von ritueller Gewalt durch skeptische Journalist:innen und Wissenschaftler:innen bestritten, welche argumentierten, dass die meisten Vorwürfe ritueller Gewalt das Produkt von „moralischer Panik“, sogenannte „false memories“ („False memory“-Theorie: In der Berichterstattung der 1980er- und 1990er-Jahre vorherrschende, verharmlosende Darstellung sexualisierter Gewalt als Produkt scheinbar „falscher“ Erinnerungen bei den Betroffenen, die durch suggestives Wirken von Psychotherapeut:innen oder anderen Behandelnden hervorgerufen würden, aber tatsächlich falsche Anschuldigungen seien) und „gesellschaftlicher Hysterie“ bezüglich sexuellen Missbrauchs seien (Guilliatt, 1996; Loftus & Ketcham, 1994; Ofshe & Watters, 1996). So wird rituelle Gewalt in der psychologischen Literatur häufig auch als Beispiel für „false memories“ angeführt (Davis & Loftus, 2009; McNally & Geraerts, 2009).

Dass Berichte über rituelle Gewalt auf falscher Wahrnehmung basieren würden, muss mit Blick auf heutige Strafverfolgungen gegen sexuellen Kindesmissbrauch mit rituellen Praktiken überdacht werden. Die psychologische Literatur zu ritueller Gewalt hatte jedoch Mühe, eine zusammenhängende theoretische Erklärung für die Rolle des Rituellen bei organisierter Gewalt zu entwickeln. Goodwins (1994) Kritik, dass der Schwerpunkt solcher Erklärungsansätze eher auf Kulten und perverser Religiosität statt auf Sexualität, Gewalt und Macht liege, ist bis heute relevant.

Der zusammengefasste Artikel stützt sich auf biografische Interviews mit 16 Erwachsenen, die berichten, in ihrer Kindheit ORG erfahren zu haben. Ziel war es, ein theoretisches Erklärungsmodell für rituelle Gewalt zu entwickeln, das auf den Erfahrungen der Betroffenen basiert. Die qualitative Methodik (in der qualitativen Forschung werden meist weniger Fälle untersucht, die dafür aber ausführlicher beschrieben werden, um Einzelheiten für eine interpretative Auswertung und ein tieferes Verständnis zu erhalten. Es werden vor allem offene Fragen gestellt, um viele individuelle Informationen zu sammeln) dient nicht nur einem wichtigen kriminologischen Zweck bei der Dokumentation von Berichten über rituelle Gewalt, sondern bietet auch auf der Theorieebene eine Alternative zu den skeptischen Behauptungen der „false memories“.

Methoden

Die Proband:innen wurden im Jahr 2008 in Form von Schreiben, die über Verteiler von psychosozialen Organisationen verbreitet wurden, auf die Studie aufmerksam gemacht. In diesen Schreiben wurden Personen über 18 Jahren mit Gewalterfahrung in organisierten Strukturen gebeten, an einem Interview teilzunehmen. Organisierte sexuelle Gewalt wurde hier durch „Formen der sexuellen Gewalt, an der mehrere Tatpersonen und mehrere Betroffen beteiligt sind“ definiert. Insgesamt wurden 21 Personen für das Projekt rekrutiert, darunter 16 Frauen und fünf Männer. 16 Teilnehmende beschrieben dabei auch rituelle Gewalt. Diese Personen wurden interviewt; die vorliegende Arbeit basiert auf einer Analyse ihrer Interviewprotokolle.

Das Format des Interviews war halbstrukturiert, d.h. die Interviewenden hatten spezifische Fragen vorbereitet, auf welche die Interviewten jedoch frei antworteten. Das Interview enthielt Fragen zur Lebensgeschichte von der Kindheit bis zur Gegenwart sowie besondere Lebensereignisse (Plummer, 1983). Ein häufiger Einwand in der qualitativen Forschung ist die Frage, ob die Teilnehmenden die Wahrheit sagen. Es ist nicht möglich, die Richtigkeit von berichteten Ereignissen zu testen. Alle Formen der Forschung – qualitativ und quantitativ – können durch natürliche Gedächtnisfehler oder absichtlich falsche Berichterstattung beeinträchtigt werden. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass Personen, die zu Gedächtnisfehlern neigen, sich besonders häufig zur Teilnahme an qualitativen Studien, vor allem zu sexualisierter Gewalt, melden. Bei der Betrachtung der Ergebnisse ist es dennoch wichtig, die Auswirkungen des Vergehens der Zeit und von Traumata auf Erinnerungen an die Gewalterfahrungen zu berücksichtigen. Jedes Interview dieser Studie wies die detaillierten Inhalte, die Lebendigkeit und die emotionale Intensität eines gut erhaltenen Gedächtnisses auf. Ebenso bestätigten die Interviews sich gegenseitig in ihren zugrundeliegenden Themen und durch die Schilderung gemeinsamer Erfahrungen. Das allgemeine Bild, das sich aus den gesammelten Lebensgeschichten ergab, wurde so auch von anderen Forschenden dokumentiert, die rituelle Gewalt, organisierte Gewalt und andere Formen von Gewalt gegen Frauen und Kinder untersuchten.

Ergebnisse

Von 21 Teilnehmenden, die in dieser Studie organisierte Gewalt beschrieben (Salter, 2012), berichteten 16 Teilnehmende (13 Frauen und drei Männer, einschließlich einem Transgender-Mann) Erfahrungen mit ritueller Gewalt, bei denen sie von Gruppen von Erwachsenen auf zeremonielle oder rituelle Weise missbraucht wurden. Wie auch in anderen Studien (Cook, 1991; Sarson & MacDonald, 2008; Scott, 2001) war die rituelle Gewalt in dieser Studie eine Strategie der Tatpersonengruppen, welche in der Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen, in Kinderprostitution und in anderen Formen organisierter Gewalt involviert waren.

Die Rolle der Familie und des Umfelds

In den Beschreibungen der Teilnehmenden über ihre Kindheit sammelte sich eine Vielzahl von Gewalterfahrungen. Die Mehrheit der Befragten berichtete, dass rituelle Gewalt aktiv durch ein oder beide Elternteile ermöglicht oder gefördert wurde. Einige Teilnehmenden berichteten auch über sexuelle Gewalt in der Schule. Unter jenen waren auch einige, die von Tatpersonen außerhalb der Familie, z.B. Lehrer:innen oder Priester:innen, rituell missbraucht wurden. In der Kindheit der Teilnehmenden war die sexualisierte Gewalt so allgegenwärtig, dass sie ihn als einen alltäglichen Aspekt ihres kindlichen Lebens bezeichneten:

„Es war etwas, womit man sich abfinden musste, wie überkochten Kohl zu essen, (...).“

Der ideologische Hintergrund

Rituelle Gewalt unterschied sich von den Schilderungen anderer Gewalterfahrungen der Teilnehmenden durch ein höheres Maß an Angst. Die religiösen Theorien und Praktiken der rituellen Gewalt scheinen oft wie ein hollywoodartiger Abklatsch von Satanismus, der von Scott (2001) als „billiger Okkultismus“ beschrieben wird (S. 9). Kent (1993a, 1993b) beschrieb den Gebrauch ritueller Praktiken innerhalb von organisierter Gewalt als an die gängigen Schriften des Satanismus angelehnte Form. Solche Tatpersonengruppen schöpften demnach aus einer Reihe bereits bestehender ritueller Traditionen. Die Studienteilnehmer:innen berichteten, dass ihre Gewalterfahrungen religiöse oder übersinnliche Ideologien enthielt, insbesondere aus dem Christentum, dem Satanismus und aus der Freimaurerei. Jene Teilnehmenden berichteten, als Kinder in „zwei Welten“ gelebt zu haben, mit angeblich wohlwollenden religiösen Institutionen und Ideologien, die dann wiederum in sadistischen und bizarren Gewalthandlungen verstrickt wurden. Die spezifischen Umstände der rituellen Gewalt waren individuell unterschiedlich. Doch bei der Beschreibung der Ideologien der Tatpersonengruppen gaben die Teilnehmenden ähnliche Dimensionen an: böse/gut, männlich/weiblich, mächtig/machtlos, Finsternis/Licht, Satanismus/Christentum:

„Bei den Folterungen gab es immer kurze einfache Dinge wie ‚Satan ist gut‘, ‚Gott ist böse‘, ‚Jesus ist böse‘, ‚Das Böse ist gut‘, ‚Das Gute ist böse‘ (...).“

„Man wird also in die Lage versetzt, zwischen Gut und Böse, Satan, Gott, Licht, Finsternis wählen zu müssen (...).“

Während die spezifischen Einzelheiten der Gruppenideologien unterschiedlich beschrieben wurden, hatten sie stets eine stark von jenen beschriebenen Dualismen geprägte Weltanschauung gemeinsam. Rituelle Gewalt kam hier als notwendige Praxis in einem kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse vor.

Die Rolle männlicher Personen

Manchmal wurde rituelle Gewalt als überzogen männlicher, metaphysischer [Anm.: übersinnlich, geistig/geistlich, unergründbar] Akt der Herrschaft charakterisiert:

„Wir sind Gott, die Herrscher des Universums, also sind wir berechtigt, zu tun, was wir wollen. Wir müssen unsere kleinlichen moralischen menschlichen Standards überwinden, die uns die Welt auferlegt hat.“

In diesen Fällen schienen Männer durch rituelle sexuelle Gewalt das Gefühl von Status und Macht erreichen zu können.

Die Rolle der Mädchen und Frauen

Auch wurde eine besondere Rolle von Frauen und Mädchen im rituellen Kontext beschrieben. In einigen Fällen wurde berichtet, dass Tatpersonengruppen eine matriarchalische (Matriarchalisch; das Matriarchat: lat. „von Frauen bestimmt“. Soziologischer Begriff für eine von Frauen geprägte und bestimmte Gesellschaftsordnung, in der die Frau bzw. die Mutter eine zentrale Rolle in Gesellschaft und Religion einnimmt. Gegenwort: Patriarchat) Machtstruktur vorgaben, in der Frauen vorrangige Machtpositionen innehatten. Jedoch wurden die Frauen dabei zur Anwendung von Gewalt manipuliert, was die Tatpersonen wiederum als Wunsch der Frauen interpretierten, missbraucht zu werden oder selbst zu missbrauchen. Eine Teilnehmerin beschrieb im Zusammenhang mit dieser Form der „Rollenumkehr“, wie Männer ihre Ehepartnerinnen gewaltsam zu organisierter Gewalt zwangen. Die Komplizenschaft der Frauen bei der sexuellen Ausbeutung ihrer Kinder wurde dann als Ausdruck von Macht und Herrschaft der Frauen mythologisiert [Anm.: etwas auf mystische Art und Weise darstellen].

„(...) Die Mädchen sind diejenigen, die sie wirklich kontrollieren wollen. Weil sie wissen, dass sie die nächste Generation haben, wenn sie die Frau kontrollieren. Und diese Frau wird einfach den Rücken kehren und sich nicht um ihre eigenen Kinder sorgen. Daher ist es von größter Bedeutung, dass sie sie von klein auf wirklich kontrollieren.“

Schuldumkehr und Rationalisierung der Gewalt

Einige Teilnehmende erläuterten, wie rituelle Gewalt als eine notwendige Praxis dargestellt wurde, die zu ihrem angeblichen Vorteil durchgeführt würde. Im Rahmen dieser Überzeugungen übertrugen die Tatpersonen die Verantwortung für die Gewalt auf das Kind selbst. Sie behaupteten dabei, dass das Kind und seine schlechten Eigenschaften selbst schuld daran seien. Dabei stellten sie die sexuelle Gewalt als die einzig vernünftige Antwort auf die moralische Minderwertigkeit der Betroffenen dar und behaupteten, dass das Kind seine Verfehlungen überwinden und Sinn und Zweck darin finden könne.

„Es war, als seien alle gut, bis auf mich. (...) Es war wie in einem Comicbuch. Ich war das Böse und der Rest der Welt versucht, mich zu bekämpfen“.

Aufgrund solcher Gewaltrechtfertigungen fühlten sich die Teilnehmenden verwirrt, unsicher und orientierungslos. Sie sprachen davon, zu versuchen, mit den Tatpersonen zusammenzuarbeiten, „gut zu sein“ oder die Tatpersonen stolz machen zu wollen, obwohl sie sich nicht einmal sicher waren, zu welchen Bedingungen dies erreicht werden könnte.

Praktiken und Auswirkungen der rituellen Gewalt
1) Erniedrigung, Folter, Entmenschlichung

Während die Begründungen für die rituelle Gewaltanwendung variierten, waren die berichteten Auswirkungen dieselben. Die rituelle Gewalt diente dazu, Kindern und Frauen vorzumachen, das Leid verdient zu haben, das ihnen angetan wurde. Dies wurde nicht explizit ausgesprochen, sondern durch Schmerz und Folter vermittelt. In den Berichten der Teilnehmenden bezogen die Tatpersonen sexuelle Übergriffe und andere Missbrauchspraktiken in Erniedrigungszeremonien mit ein. Neben Vergewaltigung gehörte zu diesen Zeremonien auch die Verstümmelung von Tieren und die erzwungene Einnahme von Tierkot, Blut und Fleisch. Die Betroffenen verinnerlichten so ein tiefes Gefühl von Scham und Entmenschlichung. Die erzwungene Einnahme von Kot, Urin und Blut gehört auch in anderen Berichten zu den am häufigsten gemeldeten Formen der Folter (Jones, 1991; Snow & Sorenson, 1990; Waterman et al., 1993). In traumatisierenden Torturen, in denen sie gezwungen wurden, mit Tod, Blut und menschlichen Ausscheidungen in Kontakt zu kommen, veränderte sich laut den Teilnehmenden ihre Selbstwahrnehmung. Diese glich sich letztlich der Ansicht der Tatpersonen an, nach welcher die Betroffenen z.B. minderwertig seien. Unabhängig vom spezifischen ideologischen Inhalt diente rituelle Gewalt demnach dazu, Kinder und Frauen als unreine Personen darzustellen, die Liebe und Fürsorge nicht verdient hätten. Das daraus resultierende Gefühl der fehlenden sozialen Zugehörigkeit band Betroffene zusätzlich an die Tatpersonengruppe.

2) Illusion von Status und Privileg

Es wird berichtet, dass Tatpersonen die Kinder dazu bringen, ihren vermeintlich untergeordneten Platz zu verinnerlichen und zu akzeptieren. Den Kindern wird gesagt, dass es ein Privileg sei, für den Missbrauch ausgewählt zu werden:

„Es ist eine Ehre, Dinge für sie zu tun, es ist eine Ehre, für sie zu sterben, es ist die größte Ehre, für sie ausgewählt zu werden. Es ist mein Schicksal.“

„Ich habe das Gefühl, dass die Tatpersonen diesen Narzissmus fast fördern – den Glauben, dass der Missbrauch dich in irgendeiner Weise wichtig macht. Dass du die auserwählte Person bist“.

Andere Teilnehmende erinnerten sich daran, wie diese Illusionen von Status innerhalb des Gruppenmythos durch die Verleihung von Titeln ausgedrückt wurden:

„Sie haben mich dazu gebracht, eine Art ,Hohepriesterin‘ zu sein und all diese Sachen. Sie haben mich gefoltert und konditioniert, und dann werde ich benutzt. (...) Sie geben dir eine Machtposition, nachdem sie dich dazu konditioniert haben, das zu sein, was sie von dir wollen (...).“

3) Bindung und Identität

Durch die anhaltende Entmenschlichung mit dem Versprechen der Erlösung war rituelle Gewalt eine wirksame Strategie, um einerseits die sexuelle Ausbeutung der Betroffenen zu rechtfertigen und andererseits ihre aktive Teilnahme an Gewalthandlungen zu fördern. In dieser Studie beschrieben die Teilnehmenden, wie sie sich mit den Tatpersonen verbündeten und sie unterstützten, da ihre Selbstidentität in wichtiger Weise von organisierter Gewalt abhing. So hielt bei sieben Teilnehmenden die Beteiligung an ritueller Gewalt bis ins Erwachsenenalter an, wobei drei Teilnehmende berichteten, auch ihre eigenen Kinder zur Verfügung gestellt zu haben. Bei Flucht und Kontaktabbruch zur Tatpersonengruppe folgten Drohungen, wie eine Teilnehmerin berichtete:

„Als David geboren wurde, bekam ich seltsame Anrufe. Leute, die mir drohten, was sie mit David machen würden (...). Manchmal gab es Anweisungen, wohin ich ihn bringen sollte. Und es gab Zeiten, da passierte das auch (...).“

In den Berichten der Teilnehmenden zeigen sich Behauptungen und Ansichten der Tatpersonen, sie hätten das Recht, Kinder und Frauen zu missbrauchen und dass diese Gewalt wollten und verdienten. Auch wird deutlich, wie die durch rituelle Gewalt verinnerlichte untergeordnete Selbstsicht weiter fortbesteht und so die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Sicherheit der Betroffenen langandauernd beeinträchtigt.

Diskussion

Die Analyse der Berichte von Personen mit ORG-Erfahrungen verdeutlicht, wie Rituale als rechtfertigende Praktiken innerhalb der organisierten Gewalt dienen. Tatpersonengruppen verwenden rituelle Praktiken, um die Macht der Tatpersonen über betroffene Frauen und Kinder zu etablieren. Diese Herrschaft ist häufig mit Verweisen auf „natürliche“ oder „übernatürliche“ Regeln versehen. In diesem Zusammenhang scheinen die Rituale nicht einfach eine abweichende Form religiöser Aktivität zu sein: Sie dienen dazu, organisierte Gewalt ideologisch zu untermauern. Sexualisierte Gewalt wird durch Ideologien umgedeutet: vom strategischen Mittel zur Ermächtigung hin zu einem männlichen Recht bzw. einer männlichen Pflicht. Die zahlreichen Erwähnungen von Satan, magischen Kräften und ewiger Verdammnis mögen denjenigen, die mit ritueller Gewalt nicht vertraut sind, naiv und bizarr erscheinen. Für Betroffene von ritueller Gewalt rufen sie jedoch eine übernatürliche Ordnung auf, in der von ihnen verlangt wird, sich weiter der Gewalt zu unterwerfen. Innerhalb traumatisierender Rituale, bei welchen der Kontakt mit Ekelsubstanzen (Kot, Urin, Blut etc.) erzwungen wird, scheint sich die Selbstwahrnehmung der Betroffenen mit der Zeit an die Ansichten der Tatpersonen anzugleichen. Die Betroffenen betrachten sich demnach als unrein und nehmen an, dass ihr Schicksal darin bestünde, Gewalt durch Männer zu ertragen, die ein (über-) natürliches Recht darauf beanspruchen.

Berichte über rituelle Gewalt kommen nicht aus dem Nichts. Vielmehr scheint diese Gewaltform auf kultureller Logik von Geschlecht, Macht und Gewalt zu beruhen. Die Argumente, dass Betroffene von sexueller Gewalt es „verdienen“ oder „darum bitten“ und dass sexuelle Gewalt ein „natürlicher“ und entschuldbarer männlicher Drang ist, gelten dabei nicht nur für rituelle Gewalt. Sie sind allgemein weit verbreitete Rechtfertigungen für Gewaltanwendungen und beinhalten gängige gesellschaftliche Konventionen (Suarez & Gadalla, 2010).

Den Ergebnissen dieser Studie zufolge scheint der Fokus bisheriger Fachliteratur zu ritueller Gewalt unangemessen: Bisher haben sich Personen, die die Existenz ritueller Gewalt bestreiten, auf Berichte von satanischer Anbetung und andere bizarre Praktiken fokussiert, ohne Rücksicht auf die wirklichen Erfahrungen Betroffener zu nehmen. Aber auch ein Großteil der Fachliteratur, in dem Berichte über rituelle Gewalt ernst genommen werden, kann wegen einer Überbetonung der rituellen Symbole und Praktiken kritisiert werden. Durch ihr gemeinsames Interesse an den bizarrsten Aspekten der rituellen Gewalt übersehen Autor:innen beider Seiten die Dynamik von Geschlecht, Alter und Macht sowie Ähnlichkeiten zwischen ritueller Gewalt und anderen Formen sexueller Gewalt und Ausbeutung. Dieser Artikel legt nahe, dass rituelle Gewalt eine Praxis ist, durch die einige Tatpersonengruppen Kinder und Frauen in eine gewalttätig frauenfeindliche Weltanschauung indoktrinieren (Indoktrinieren: Beeinflussung, meist im ideologischen Sinn; ugs.: jmdn. einer „Gehirnwäsche“ unterziehen), in der sie als angemessene Missbrauchsobjekte dargestellt werden. Dies unterstreicht den Nutzen ritueller Gewalt als Strategie zum organisierten Missbrauch von Kindern und Frauen. Es wird außerdem deutlich, dass sexuelle Gewalt zwar komplexe und vielfältige Formen annehmen kann, dass diese Varianten aber letztlich dennoch auf zugrundeliegenden Strukturen von Geschlecht, Alter und Macht basieren.

Zentrale Schlussfolgerungen

1) Rituelle Gewalt kann als eine Strategie verstanden werden, mit der Tatpersonen die sexuelle Ausbeutung von betroffenen Personen rechtfertigen.

2) Kinder und Erwachsene, die ritueller Gewalt ausgesetzt sind, können aktiv an den an ihnen begangenen Gewalttaten mitwirken, was die Bemühungen um die Aufdeckung, das Eingreifen und die Behandlung erschwert.

3) Praktizierende Fachpersonen sollten berücksichtigen, wie sich verbreitete Rechtfertigungen für Sexualverbrechen, welche die Schuld und die Verantwortung den Betroffenen zuschreiben, auch bei ritueller Gewalt widerspiegeln.


Referenzen

  • Andrews, B., Morton, J., Bekerian, D. A., Brewin, C. R., Davies, G. M. & Mollon, P. (1995): The recovery of memories in clinical-practice-experiences and beliefs of british-psychological-society practitioners. Psychologist, 8 (5), S. 209–214.
  • Bottoms, B. L., Shaver, P. R. & Goodman, G. S. (1996): An analysis of ritualistic and religion-related child abuse allegations. Law and Human Behavior, 20(1), S. 1–34. https://doi.org/10.1007/BF01499130 (Abruf 17.07.2021).
  • Briere, J. (1988): The long‐term clinical correlates of childhood sexual victimization. Annals of the New York Academy of Sciences, 528(1), S. 327–334. DOI: 10.1111/j.1749-6632.1988.tb42084.x.
  • Casey, E. A. & Nurius, P. S. (2005): Trauma exposure and sexual revictimization risk: Comparisons across single, multiple incident, and multiple perpetrator victimizations. Violence Against Women, 11(4), S. 505–530. https://doi.org/10.1177/1077801204274339 (Abruf 17.07.2021).