Ideologien, sprich Weltanschauungen, können für Tatpersonengruppen den Zweck erfüllen, schwere Gewalttaten zu rechtfertigen und zu intensivieren. Wenn Ideologien wie zum Beispiel satanistische, religiöse oder rechtsextreme Weltanschauungen bei organisierter sexualisierter Gewalt eine Rolle spielt, wird hier auch von „ritueller Gewalt“ gesprochen. Der folgende Text fasst Erfahrungswissen über ideologisch-assoziierte Gewalt in Gruppen zusammen und bettet diese in Fachliteratur ein.
Wenn sich Menschen in Gruppen zusammenschließen, beeinflussen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig (1). Das Zusammengehörigkeitsgefühl eines Fußballteams oder Mobbing am Arbeitsplatz sind Alltagsbeispiele, welche die positiven und negativen Seiten solcher Gruppenprozesse aufzeigen. In sogenannten manipulativen Gruppen nutzen einzelne Mitglieder solche Prozesse strategisch, um andere zu unterwerfen und an die Gruppe zu binden (2). Eine hierbei häufig verwendete Manipulationsstrategie ist das andauernde, wiederholte und intensive Ausüben von Kontrolle, Druck und Zwang (2). Die Auswirkungen solcher Manipulationsstrategien auf Betroffene sind von Person zu Person und je nach Gruppenkontext unterschiedlich.
Der Begriff „Ideologie“ steht für „Weltanschauung“. Er stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Lehre von den Ideen“. Es gibt viele verschiedene Ideologien. Sie alle sind verknüpft mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen über den Sinn und Zweck des Lebens sowie über die Bedingungen und Ziele des Zusammenlebens in Menschengruppen (3). Manipulative Gruppen können Ideologien nutzen, um ihre Absichten, ihre Interessen und ihr Handeln zu begründen und zu rechtfertigen (3). Eine gemeinsame Ideologie stärkt das Gruppen- und Zusammengehörigkeitsgefühl und stützt auf diese Weise das System der Gruppe. Gleichzeitig kann eine Ideologie unfaire Machtverhältnisse zwischen Gruppenmitgliedern rechtfertigen und stabilisieren: Gruppenmitglieder, die an die Ideologie glauben, empfinden auch bei Benachteiligung weniger Ungerechtigkeit und Frustration. Das wiederum hemmt ihren Widerstand und stärkt die mächtigen Personen der Gruppe (4). Zudem bieten Ideologien den Gruppenmitgliedern eine gemeinsame, einheitliche Lebensrealität. Es werden zum Beispiel gemeinsame Erfahrungen gemacht. Diese Erfahrungen werden als etwas Besonderes dargestellt, was nur Gruppenmitgliedern zugänglich ist. Weiterhin können systemstützende Ideologien durch ihr Angebot einer einheitlichen, geteilten Lebensrealität eine starke Bindung im Sinne der Gruppenzugehörigkeit und ein Solidaritätsempfinden untereinander erzeugen (5).
„Und auch die Geborgenheit, irgendwo einer Gruppe dazuzugehören, weil man sagte mir immer, dass man etwas Besonderes ist, wenn man dieser Gruppierung angehört.“
Ideologien stellen neben intensiver, generationsübergreifender Gewalt ein zentrales Merkmal von „ritueller“ Gewalt dar, einer besonderen Form von sexuellem Kindesmissbrauch in organisierten Gewaltstrukturen (7). Besonders häufig werden von Betroffenen und Helfenden satanistische, religiöse und rechtsextreme Weltanschauungen genannt (8). Berichten zufolge können die Ideologien auch miteinander vermischt sein (9).
„Es war im Endeffekt eine Mischung aus rechtsradikal und … Ein ziemlich verdrehtes Gottesbild.“
Im Zusammenhang mit solchen Ideologien beschreiben betroffene Personen „rituelle Praktiken“ im Sinne eines Lebens nach bestimmten Regelsystemen in Form von Vorschriften, wiederkehrenden gewaltvollen Abläufen und Zeremonien (9). Die Ideologie diene hierbei als Begründung für die Gewalttaten an den Betroffenen im Rahmen von Ritualen. Beispielsweise könnten Tatpersonen den betroffenen Personen durch Ideologien vermitteln, dass sie Gewalt verdienen würden und selbst dafür verantwortlich seien oder sogar, dass Gewalt positiv besetzt wäre.
„Die Strafe ist ja sozusagen das Tolle, weil wir dadurch halt dem Teufel näherkommen. […] Das ist paradox aus heutiger Sicht, aber das ist das Denken von denen gewesen.“
Betroffene berichten darüber hinaus, Tatpersonen würden bei Zeremonien und Gewalthandlungen bestimmte Kleidungsstücke und Gegenstände als „rituelle“ Symbole nutzen und damit der Ideologie Ausdruck verleihen. So trügen Tatpersonen zum Beispiel Kostüme, maskierten sich, verwendeten okkulte Gegenstände oder nutzten ein gruppeninternes Vokabular – sprich gruppeninterne Bezeichnungen – für Personen und Orte. Damit würden unter anderem die Hierarchien innerhalb der Tatpersonengruppe verbildlicht. Zudem verschleierten die Tatpersonen damit auch ihre Identität bei Gewalthandlungen.
„Die Sektenmitglieder trugen Kutten mit Kapuzen und Masken; wenn sie keine Masken trugen, dann hatte ich die Augen verbunden.“
In Fachkreisen wird diskutiert, inwieweit sexuelle Gewalt durch zum Beispiel katholische Geistliche vor dem Hintergrund der Ideologie zumindest teilweise die Definition von ritueller Gewalt erfüllt. Dies wurde bisher noch nicht abschließend bewertet (10). Offen ist auch die Frage, ob die Tatpersonen im Kontext ritueller Gewalt selbst an die Ideologie der Gruppe glauben oder diese ausschließlich strategisch und somit vielmehr als Pseudo-Ideologie nutzen. Auch das konnte wissenschaftlich bislang noch nicht ausreichend geklärt werden.
In Anbetracht vieler Betroffenenaussagen und Erfahrungsberichte aus der Praxis scheint es, dass Tatpersonengruppen ihre Gruppenmitglieder manipulieren, indem sie Gewalthandlungen mit Ideologien rechtfertigen und begründen. Die Tatpersonen erschweren es so betroffenen und helfenden Personen systematisch, die Gewalt aufzudecken (6) und betroffenen Personen aus der Gruppe auszusteigen (10). Gerade für Menschen, die berichten, von Geburt oder frühester Kindheit an mit den Ideologien aufgewachsen zu sein, scheint der Ausstieg besonders schwer. Sie müssen sich von einem erlernten Werte- und Normensystem lösen und ein vollkommen neues Weltbild für sich definieren. Fachpersonen, die Betroffene beim Ausstieg begleiten, sollten zugrundeliegende Ideologien im Idealfall kennen und gegebenenfalls besonders berücksichtigen.
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