Salter, M. & Richters, J. (2012): Organised abuse: A neglected category of sexual abuse with significant lifetime mental healthcare sequelae. Journal of Mental Health, 21(5), S. 499–508.
Organisierte Gewalt, definiert als Zusammenschluss mehrerer erwachsener Tatpersonen zur sexuellen Ausbeutung mehrerer betroffener Personen wird oft kontrovers diskutiert. Ziel dieser zusammengefassten Arbeit war es, die verfügbaren Kennzahlen zu organisierten Gewaltstrukturen zusammenzufassen, zu analysieren und Herausforderungen zu identifizieren, die solche Strukturen für die Politik und die klinische Praxis darstellt. Dazu wurden Prävalenzstudien (Prävalenz: Kennzahl zur Bestimmung der Häufigkeit eines bestimmten Merkmals in einer Gruppe, z.B. einer Eigenschaft oder Krankheit in der Bevölkerung) und Ergebnisse zu gesundheitlichen Auswirkungen beschrieben. Im Zusammenhang mit organisierten Gewaltstrukturen zeigten sich besonders schwere psychische und körperliche Folgen. Eine integrierte Versorgung von Betroffenen organisierter sexueller Gewalt gibt es derzeit nicht.
In der klinischen Praxis werden Patient:innen vorstellig, die eine Form der sexualisierten Gewalt erlebt haben, an dem mehrere Tatpersonen beteiligt und mehrere Kinder betroffen waren (Gold et al., 1996; McClellan et al., 1995; Middleton & Butler, 1998). Dies wurde als „organisierte Gewalt“ definiert (Bibby, 1996; La Fontaine, 1993). Organisierte Gewalt ist bei Betroffenen mit einer Reihe traumaassoziierter psychischer Störungen sowie anderen negativen Lebensergebnissen verbunden.
Organisierte Gewalt war in den letzten 30 Jahren eines der umstrittensten Themen in Debatten um sexuellen Kindesmissbrauch (Kitzinger, 2004). Obwohl Untersuchungen darauf hinweisen, dass die Familie bei organisierter Gewalt eine wichtige Rolle spielt (Itzin, 2001; Kelly et al., 2000; Scott, 2001), wurde dies nicht ausreichend anerkannt (Kelly, 1996). Spekulationen um die bizarren Merkmale einiger Fälle organisierter Gewalt, z.B. rituelle sexuelle Praktiken, haben familiäre Kontexte und geschlechtsspezifische Dynamiken in diesen Strukturen überdeckt (Scott, 2001). Auch die starke Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Berichten von organisierter und ritueller Gewalt (ORG) hat sich auf die Wahrnehmung von organisierter Gewalt ausgewirkt (z.B. Guilliatt, 1996; Loftus & Ketcham, 1994; Ofshe & Watters, 1996).
Studien ergaben, dass erwachsene Betroffene von ORG in verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitssystems vorstellig werden (Cooper, 2004; Schmuttermaier & Veno, 1999), wobei ihren komplexen Bedürfnissen oft nicht nachgekommen werden kann. Im Rahmen von Untersuchungen des Jugendschutzes konnten ebenfalls Kinder identifiziert werden, die von organisierter Gewalt betroffen waren (z.B. Doherty et al., 1999; Galey, 1995; Goddard, 1994). Hinweise darauf, dass organisierte Gewalt erhebliche Folgen für die psychische Gesundheit betroffener Personen hat, erfordern eine Neubewertung der verfügbaren Ergebnisse zu diesem Thema.
Die vorliegende Untersuchung wurde im Rahmen einer größeren Studie zu organisierten Gewaltstrukturen durchgeführt (s. Salter, 2012). Aufgrund der in einzelnen Studien unterschiedlichen Erhebungs- und Auswertungsmethoden sowie der verschiedenen Verfahren zur Gewinnung von Teilnehmenden ist ein systematischer Vergleich der Forschung zu organisierter nicht umsetzbar. Die Autor:innen dieser Studie recherchierten daher fachübergreifend in Datenbanken aus den Bereichen Psychologie, öffentliche Gesundheit, Medizin und Sozialwissenschaften.
Es ist schwierig, die Prävalenz jeglicher Form sexualisierter Gewalt zu ermitteln. Generell wird davon ausgegangen, dass die gemeldeten Fälle nur einen Bruchteil darstellen und die Gesamtheit tatsächlicher Fälle nicht abbilden (Bromfield & Higgins, 2003). Zudem variieren die Ergebnisse von Prävalenzstudien je nach Methode der Gewinnung von Teilnehmenden, dem Geschlecht der Teilnehmenden, der Analyse-Methodik der Studie und der Definition von sexualisierter Gewalt (Goldman & Padayachi, 2000; Wynkoop et al., 1995). Diese methodischen Schwierigkeiten der Forschung zu sexualisierter Gewalt verkomplizieren sich bei organisierter Gewalt noch weiter, zum Beispiel durch einen oft früheren Beginn und eine längere Dauer der Gewalt, Drohungen oder bestehende Abhängigkeitsverhältnisse zu Tatpersonen (Briere & Conte, 1993; Loewenstein, 1996; Schultz et al., 2003).
Bevölkerungsumfragen lieferten unterschiedliche Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch: Zwischen 3% und 12% der erwachsenen Männer und zwischen 10% und 20% der Frauen in Australien, Neuseeland und den USA berichteten von sexuellen Berührungen, Kontakten oder Nötigungen in der Kindheit (de Visser et al., 2003; Fanslow et al., 2007; Laumann et al., 1994). Aus solchen Umfragen kann zwar nicht direkt ermittelt werden, wie viele der Befragten organisierte Gewalt erlebt haben, aber es lassen sich dennoch Hinweise auf bestimmte Muster erkennen: Sexualisierte Gewalt durch mehrere Personen in der Kindheit, durch Männer und Frauen sowie mit Beginn vor dem 6. Lebensjahr scheinen charakteristisch für organisierte Gewalt zu sein (Alfred et al., 1999; Dickenson et al., 1999; Leserman et al., 1997). Zwischen 5% und 10% der Frauen berichten in einigen Studien von sexualisierter Gewalt durch mehrere Personen (Kendler et al., 2000; Long & Jackson, 1991); sexualisierte Gewalt durch Frauen und Männer kann auf organisierte Gewalt hindeuten, da Täterinnen die Gewalt häufig mit einem oder mehreren Tätern zusammen ausüben (Grayston & De Luca, 1999; Faller, 1995; Vandiver, 2006).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwischen 10% und 20% der Frauen und zwischen 3% und 12% der Männer sexualisierte Gewalt im Kindesalter berichten. Von denjenigen, die sexualisierte Gewalt angaben, berichteten 2% der Frauen und 5% der Männer über Gewalt durch Männer und Frauen. Berichte über sexualisierte Gewalt vor dem 6. Lebensjahr und durch mehrere Tatpersonen, wurden insbesondere von Frauen, die wegen sexualisierter Gewalt behandelt wurden, sowie von obdachlosen und inhaftierten Frauen gemeldet. In klinischen Settings, z.B. in stationärer Psychotherapie, berichteten bis zu einem Fünftel der betroffenen Frauen und Kinder organisierte Gewaltmerkmale, wenn spezifisch nachgefragt wurde. Die Mehrheit der vorliegenden Prävalenzstudien oder klinischen Studien enthielt solche spezifischen Fragen zu organisierten Strukturen jedoch nicht (Briere, 1988; Finkelhor & Williams, 1988; Gold et al., 1996; McClellan et al., 1995).
Ein Großteil der verfügbaren Literatur zu organisierter Gewalt konzentriert sich auf rituelle Gewalt – wahrscheinlich wegen der kontroversen Debatten um rituelle Gewalt und weil Klient:innen mit solchen Missbrauchserfahrungen schwerste traumatische und dissoziative (Dissoziative Störungen: Psychisches Störungscluster, gekennzeichnet durch eine Desintegration der Prozesse des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Emotion, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation, der motorischen Kontrolle und des Verhaltens; Brand et al., 2010) Symptome aufweisen (Fraser, 1997). Fachpersonen in Kliniken für dissoziative Störungen treffen besonders häufig auf Betroffene mit organisierten Gewalterfahrungen: Hier berichteten zwischen 4% und 8% der Klient:innen über rituelle Gewalt in der Vorgeschichte (Coons, 1994; Putnam, 1997), weitere 11% über Missbrauch durch „pädophile Ringe“ ”(Middleton & Butler, 1998).
Einige Forscher:innen aus Großbritannien versuchten über die Anzahl der gemeldeten Fälle bei der Polizei und den Jugendschutzbehörden genauere Zahlen zu organisierter Gewalt zu ermitteln. Dabei fanden sie heraus, dass in den 1980er-Jahren über einen Zeitraum von zwei Jahren sechs „Sex- Ringe“ mit mehreren kindlichen Betroffenen und mehreren Tatpersonen bei der Polizei gemeldet worden waren (Wild, 1989). Eine weitere Umfrage unter 71 Jugendschutzteams in Großbritannien ergab, dass 41% der Behörden zwischen 1989 und 1991 von mindestens einem Fall von organisierter Gewalt wussten; 20% der Teams gaben außerdem an, mit Kindern zu arbeiten, bei denen der Verdacht auf organisierte Gewalt bestand (Creighton, 1993). Auch wenn in vielen Umfragen nicht explizit der Begriff „organisierte Gewalt“ verwendet wurde, weisen in der Summe viele Faktoren in unterschiedlichen Studien auf organisierte Strukturen hin.
Sexueller Missbrauch in der Kindheit ist mit einer Reihe von psychischen, körperlichen und sexuellen Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter verbunden (Maniglio, 2009), wobei sich nicht bei allen Betroffenen solche Langzeiteffekte einstellen (Rind et al., 1998). Die Auswirkungen der sexuellen Gewalt auf die Betroffenen hängen mit Faktoren wie dem familiären und sozialen Umfeld des Kindes, der Beziehung zu Tatpersonen (Briere & Elliott, 1993) sowie bestimmten Merkmalen der Gewalttaten an sich zusammen. Faktoren, die allerdings mit schweren Langzeitfolgen für Betroffene verbunden sind, sind auch häufig die Merkmale organisierter Gewalt (Gallagher et al., 1996) – etwa Gewalt durch mehrere Tatpersonen, häufigere Übergriffe, eine längere Dauer der Gewalt, Tatpersonen aus der Familie sowie, zusätzlich zur sexualisierten Gewalt, körperliche Gewalt, Drohungen oder die Verabreichung von Drogen (Briere & Runtz, 1988; Casey & Nurius, 2005; Dube et al., 2005). Insbesondere sind diese Merkmale mit komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen sowie dissoziativen Störungen verbunden. So wurde in Fällen von organisierter Gewalt berichtet, dass solche Störungen absichtlich durch Tatpersonengruppen verursacht werden können, um die Aufdeckung ihrer Taten zu verhindern (Epstein et al., 2011; Miller, 2012; Sachs & Galton, 2008).
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Betroffene aus Kontexten organisierter Gewalt schwere Traumafolgestörungen entwickeln (Ross, 1995; Noblitt & Perskin, 2000; Sachs & Galton, 2008). Erwachsene mit nicht diagnostizierter oder unbehandelter dissoziativer Störung weisen eine hohe Suizidrate auf (Kluft, 1995). Ross (1997) stellte jedoch fest, dass sich das Suizidrisiko verringern kann, sobald eine psychologische Betreuung besteht. Eine psychologische Behandlung von Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung ist weiterhin notwendig, um ihre Gefährdung für anhaltende körperliche und sexualisierte Gewalt aufzufangen. Vor allem sind die Schwere und Häufigkeit der sexualisierten Gewalt mit der Schwere von psychosozialen Beeinträchtigungen verbunden (Zanarini et al., 2002). Doch aufgrund von fehlenden spezialisierten Hilfsangeboten für Betroffene von organisierter Gewalt stellen sich Betroffene letztlich bei Anlaufstellen vor, die nicht auf ihre akuten Bedürfnisse abgestimmt sind, wie z.B. Sozialdienste oder Anlaufstellen für häusliche Gewalt (Cooper, 2004; Courtney & Williams, 1995).
Organisierte Gewalt kann schwere Folgen für den psychischen und körperlichen Gesundheitszustand der betroffenen Personen haben, wozu auch dissoziative Amnesien beziehungsweise Erinnerungslücken gehören (Briere & Conte, 1993; Chu et al., 1999; Williams, 1993). Daher sind Studien mit retrospektiven Selbstberichten möglicherweise keine geeignete Methode zur Untersuchung organisierter Gewalt, und die Ergebnisse jener Studien unterschätzen wahrscheinlich das reale Ausmaß. Befragungen von Erwachsenen, die über sexualisierte Gewalt berichten, deuten jedoch darauf hin, dass eine klare, bedeutsame Minderheit organisierte Gewalt erlebt hat. Angesichts skeptischer Fragen zur Wahrhaftigkeit solcher Berichte und da sich die Forschung zu organisierter Gewalt in ihren Methoden untereinander qualitativ unterscheidet, müssen die verfügbaren Informationen mit Vorsicht interpretiert werden. Es ist jedoch zu betonen, dass die Forschung wesentlich schwerere Symptome und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Patient:innen aus organisierten Gewaltkontexten oder damit verbundenen Merkmalen (mehrere Tatpersonen, sexueller Missbrauch durch Frauen und Männer und/oder sehr früher Beginn des Missbrauchs) feststellt, als bei Patient:innen aus anderen Kontexten. Trotz ihrer komplexen Bedürfnisse haben die Betroffenen häufig keinen Zugang zu einer integrierten und effektiven Gesundheitsversorgung. Unterstützung wird von Versorgungsdiensten für sexuelle Übergriffe, häusliche Gewalt und Notunterbringungen bereitgestellt. Diese arbeiten jedoch häufig krisenorientiert und daher nur kurzfristig (Cooper, 2004). Es sind weitere Forschung und Investitionen in spezielle Behandlungs- und Unterstützungsoptionen für Betroffene erforderlich, um die Herausforderungen anzugehen, die mit organisierter Gewalt einhergehen.
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