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Rituelle Gewalt als Diskurs

Seit der Entstehung des Begriffs in den 1980er-Jahren hat sich um rituelle Gewalt ein Diskurs mit eigenem Vokabular entwickelt. Betroffen von ritueller Gewalt vereint eine von organisierter sexualisierter Gewalt gezeichnete Lebensgeschichte sowie eine Reihe trauma-assoziierter und dissoziativer (Dissoziative Störungen: Psychisches Störungscluster, gekennzeichnet durch Desorganisation der Prozesse des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Emotion, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation, der motorischen Kontrolle und des Verhaltens; Brand et al., 2010) Störungen (Young et al., 1991; Bloom, 1994; Leavitt, 1994; Jonker & Jonker-Bakker, 1997). Jedoch gibt es keine feste Definition von ritueller Gewalt: Der Begriff wird von betroffenen und helfenden Personen verwendet, um sowohl einen Gewaltakt als auch eine Kategorie sexualisierter Gewalt zu beschreiben. Als Akt bezieht sich „rituelle Gewalt“ auf sexualisierte Gewalt, die innerhalb eines Rituals oder einer Zeremonie geschieht (McFadyen et al., 1993). In den Erzählungen betroffener Personen hängt rituelle Gewalt oft mit weiteren wenig anerkannten Gewaltformen zusammen, wie etwa Gewalt außerhalb der Familie, die Produktion von sogenannten Missbrauchsabbildungen, der Prostitution von Kindern oder pädophilem Sadomasochismus (Sadomasochismus: Sexuelle Neigung/Praktik, bei welcher das Zufügen bzw. das Erleben von Schmerzen dem Lustgewinn oder der Befriedigung dient)  (Driscoll & Wright, 1991; Hudson, 1991; Smith, 1993). Über die Zeit hinweg wurde der Begriff „rituelle Gewalt“ im Sinne einer Kategorie für jegliche Erfahrungen sadistischer und organisierter sexualisierter Gewalt verwendet, die in den Mainstream-Debatten um sexualisierte Gewalt nicht vorkamen. Ein Großteil dieser Debatte hat sich auf die Diskussion um dessen Existenz und den „Wahrheitsgehalt“ der Erfahrungsberichte Betroffener beschränkt. Die Erzählungen von „moralischer Panik“ und „false memories“ (dt.: falsche Erinnerungen) fassen die Ansicht von Skeptiker:innen zusammen, wonach die Betroffenenberichte nicht real, sondern lediglich durch soziale Prozesse, etwa eine Massenhysterie oder suggestiver Psychotherapie und kulturelle Bilder z.B. von Satanismus, konstruiert seien (z.B. Victor, 1993; Guilliatt, 1996; Ofshe & Watters, 1996; Showalter, 1997; Nathan & Snedeker, 2001). Diese Positionen waren in der medialen Berichterstattung der 1990er- Jahre überaus populär. Trotz wirkungsvoller Kritik beeinflussen sie in gewissem Maße immer noch die öffentliche und wissenschaftliche Debatte um sexualisierte Gewalt.

Wohingegen die Erzählungen von Skeptiker:innen bereits genau betrachtet wurden, existieren bis dato nur wenige Überlegungen zur Konstruktion des Diskurses um rituelle Gewalt vonseiten der betroffenen und helfenden Personen. Jene haben, im Gegensatz zu Skeptiker:innen, die Berichte Betroffener seither als wirklichkeitsgetreue Wiedergaben betrachtet, die von sozialem und kulturellem Kontext unbeeinflusst sind. Jedoch zeigen Schilderungen Betroffener auf, wie einzelne Aspekte der Gewalt, die unerklärbar scheinen, erst durch das Label des Rituellen einen Sinn ergeben, wie Hudson (1994, S. 74) schildert:

„Es wurde deutlich, dass weder ich noch die gesammelten Expert:innen mehrerer lokaler Untersuchungsbehörden Vorerfahrungen mit dieser speziellen Art des Missbrauchs auf mehreren Ebenen, durch mehrere Tatpersonen, an mehreren Betroffenen hatten. Zum Beispiel verstanden wir die Verhaltensweisen der Tatpersonen, aber nicht deren Motivation. Sexuell pervers – Ja. Kinderpornografie – Ja. Sadismus – Ja. Aber warum? Schlussendlich sagte ein Elternteil: ‚Das klingt wie Satanismus.‘ Ich fragte: ‚Was ist das?‘“

Das Zitat zeigt auf, wie Praktizierende, die mit dieser Gewaltform konfrontiert werden, oft auf die bestehende Literatur zu ritueller Gewalt zurückgreifen, um Erklärungslücken zu füllen. Das Rituelle, das vorher den unverständlichsten Aspekt der Schilderungen darstellte, wird dadurch zum primären, definierenden Merkmal, welches das Verständnis der Erfahrungsberichte und den Diskurs um rituelle Gewalt prägt. Diese Betonung ritueller Formen der organisierten Gewalt und die konsequente Benennung der jeweiligen Tatpersonengruppe als „Kult“ sind problematisch, da dies andeutet, perverse religiöse Verehrung allein sei das ultimative Ziel der Tatpersonen. Allerdings bezieht sich die erlebte Gewalt in Berichten nur äußerst selten hauptsächlich auf das Rituell-Sexuelle, und wenn dem so ist, dann scheinen die Glaubenssysteme der Tatpersonengruppe eher künstlich und für die Gruppe eher spezifisch als allgemein dogmatisch und systematisch (Kent, 1993b, 1993a). Das häufige Vorkommen nicht-ritueller Gewalt außerhalb der Familie und von Ausbeutung, Prostitution und Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen sprechen weiter gegen rein religiöse Motive der Tatpersonen (Finkelhor & Williams, 1988; Bybee & Mobrey, 1993; Jonker & Jonker- Bakker, 1997). In den Berichten Betroffener ist der/die Haupttatperson meist ein Elternteil oder stammt aus dem Verwandtenkreis (Driscoll & Wright, 1991; Smith, 1993). Die Gewalt findet innerhalb sowie außerhalb der Familie, in kommerziellen sowie in rituellen Kontexten statt (Lorena & Levy, 1998). Im Diskurs um rituelle Gewalt ist „Kult“ ein Überbegriff für all diese unterschiedlichen Kontexte; „Kultmitglied“ beschreibt hingegen alle Tatpersonen, egal ob sie Teil der Kernfamilie, Teil der Tatpersonengruppe oder zahlende Kund:innen dieser Gruppe sind. Nicht-rituelle Gewalterfahrungen werden hierbei weitgehend außer Acht gelassen und alle Tatpersonen scheinen religiös motiviert. Demnach scheinen im Diskurs alle rituellen Tatpersonengruppen einheitlich. Die verfügbaren Daten zeichnen jedoch kein solches Bild.

Der Diskurs um rituelle Gewalt hat sich weiterhin nur auf Erklärungen über die Funktion des Rituellen beschränkt: Rituale dienten demzufolge entweder der Aufrechterhaltung eines perversen Glaubenssystems (Core & Harrison, 1991; Ryder, 1992; Smith, 1993; Boyd, 1996) oder der Kontrolle über die Kinder (Hudson, 1991; McFadyen et al., 1993; Pooley & Wood, 1994). Beide Ansichten setzen voraus, dass sich die Tatpersonen ihrer eigenen Beweggründe und dem vollen Ausmaß der Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst sind. Forschungsergebnisse sprechen jedoch eher für das Gegenteil, z.B. für eine verminderte Empathiefähigkeit der Tatpersonen (Abel et al., 1989; Blumenthal et al., 1999; McGrath et al., 2004). Weiterhin berichten Betroffene häufig von paraphilen (Paraphilie: Von der gesellschaftlichen Norm abweichende sexuelle Neigung) Elementen, was die Ansicht stützt, dass rituelle Gewalt nicht unbedingt „religiös“ ist, sondern eher mit sadistischem Lustgewinn und sado-sexuellem Experimentieren zusammenhängt (Lanning, 1992). Der Bericht einer Betroffenen (Bulte & de Conick, 1998) schildert den Gefallen der Tatpersonen an der Grenzüberschreitung durch illegale sexuelle Praktiken:

„Was ihnen wichtig war, war Sex, Macht, Erfahrung. Dinge zu tun, die sie niemals mit ihren eigenen Frauen ausprobiert hätten. Unter ihnen waren ein paar echte Sadisten.“

Weiterhin beschreibt die Betroffene das sie Tatpersonen-Netzwerk: Enge Familienmitglieder, die für ihre sexuelle Ausbeutung verantwortlich waren, Menschenhändler:innen, die die organisierte Gewalt vermittelten, und ein sado-sexuelles Klientel, welches „die Macht über Schmerz, Leben und Tod zu entscheiden“ als lustvoll empfand (Bulte & Conick, 1998). Das Rituelle dient also nicht dem Selbstzweck oder dem Ausdruck der Tatpersonen. Der Bericht zeigt weiterhin auf, wie ein komplexes kriminelles Netzwerk in entwickelten Ländern entstehen und lange aufrechterhalten werden kann, wie auf diese Weise Menschenhandel, Prostitution und die Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen von Kindern ermöglicht werden und wie dieser Handel in großen Teilen auf ausbeutenden Elternteilen als Mittatpersonen beruht. Im Gegensatz dazu schützt der Diskurs um rituelle Gewalt kulturelle Bilder von Familie und Gesellschaft, indem Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung auf „Kulte“ und deren perverse Religiosität geschoben werden. In diesem Sinne ist es auch nicht überraschend, dass kein westliches Land bisher ganzheitlich auf die Probleme reagiert hat, auf welche die Lebensgeschichten Betroffener hinweisen. Diese Tatenlosigkeit begründen Betroffene und ihre Fürsprecher:innen durch das diskreditierende Wirken von Skeptiker:innen und die gesellschaftliche Ignoranz. Der Autor dieses Artikels macht jedoch die psychischen und sozialen Dynamiken des Diskurses um rituelle Gewalt dafür verantwortlich, da sie individuelles und kollektives Leugnen dieser Gewaltform in der westlichen Welt verstärkten.