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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Diskussion

Die Analyse der Berichte von Personen mit ORG-Erfahrungen verdeutlicht, wie Rituale als rechtfertigende Praktiken innerhalb der organisierten Gewalt dienen. Tatpersonengruppen verwenden rituelle Praktiken, um die Macht der Tatpersonen über betroffene Frauen und Kinder zu etablieren. Diese Herrschaft ist häufig mit Verweisen auf „natürliche“ oder „übernatürliche“ Regeln versehen. In diesem Zusammenhang scheinen die Rituale nicht einfach eine abweichende Form religiöser Aktivität zu sein: Sie dienen dazu, organisierte Gewalt ideologisch zu untermauern. Sexualisierte Gewalt wird durch Ideologien umgedeutet: vom strategischen Mittel zur Ermächtigung hin zu einem männlichen Recht bzw. einer männlichen Pflicht. Die zahlreichen Erwähnungen von Satan, magischen Kräften und ewiger Verdammnis mögen denjenigen, die mit ritueller Gewalt nicht vertraut sind, naiv und bizarr erscheinen. Für Betroffene von ritueller Gewalt rufen sie jedoch eine übernatürliche Ordnung auf, in der von ihnen verlangt wird, sich weiter der Gewalt zu unterwerfen. Innerhalb traumatisierender Rituale, bei welchen der Kontakt mit Ekelsubstanzen (Kot, Urin, Blut etc.) erzwungen wird, scheint sich die Selbstwahrnehmung der Betroffenen mit der Zeit an die Ansichten der Tatpersonen anzugleichen. Die Betroffenen betrachten sich demnach als unrein und nehmen an, dass ihr Schicksal darin bestünde, Gewalt durch Männer zu ertragen, die ein (über-) natürliches Recht darauf beanspruchen.

Berichte über rituelle Gewalt kommen nicht aus dem Nichts. Vielmehr scheint diese Gewaltform auf kultureller Logik von Geschlecht, Macht und Gewalt zu beruhen. Die Argumente, dass Betroffene von sexueller Gewalt es „verdienen“ oder „darum bitten“ und dass sexuelle Gewalt ein „natürlicher“ und entschuldbarer männlicher Drang ist, gelten dabei nicht nur für rituelle Gewalt. Sie sind allgemein weit verbreitete Rechtfertigungen für Gewaltanwendungen und beinhalten gängige gesellschaftliche Konventionen (Suarez & Gadalla, 2010).

Den Ergebnissen dieser Studie zufolge scheint der Fokus bisheriger Fachliteratur zu ritueller Gewalt unangemessen: Bisher haben sich Personen, die die Existenz ritueller Gewalt bestreiten, auf Berichte von satanischer Anbetung und andere bizarre Praktiken fokussiert, ohne Rücksicht auf die wirklichen Erfahrungen Betroffener zu nehmen. Aber auch ein Großteil der Fachliteratur, in dem Berichte über rituelle Gewalt ernst genommen werden, kann wegen einer Überbetonung der rituellen Symbole und Praktiken kritisiert werden. Durch ihr gemeinsames Interesse an den bizarrsten Aspekten der rituellen Gewalt übersehen Autor:innen beider Seiten die Dynamik von Geschlecht, Alter und Macht sowie Ähnlichkeiten zwischen ritueller Gewalt und anderen Formen sexueller Gewalt und Ausbeutung. Dieser Artikel legt nahe, dass rituelle Gewalt eine Praxis ist, durch die einige Tatpersonengruppen Kinder und Frauen in eine gewalttätig frauenfeindliche Weltanschauung indoktrinieren (Indoktrinieren: Beeinflussung, meist im ideologischen Sinn; ugs.: jmdn. einer „Gehirnwäsche“ unterziehen), in der sie als angemessene Missbrauchsobjekte dargestellt werden. Dies unterstreicht den Nutzen ritueller Gewalt als Strategie zum organisierten Missbrauch von Kindern und Frauen. Es wird außerdem deutlich, dass sexuelle Gewalt zwar komplexe und vielfältige Formen annehmen kann, dass diese Varianten aber letztlich dennoch auf zugrundeliegenden Strukturen von Geschlecht, Alter und Macht basieren.