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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Einleitung

Betroffene von organisierter Gewalt werden in der psychischen Gesundheitsversorgung, z.B. bei Beratungsstellen oder in psychotherapeutischer Behandlung, vorstellig (Briere, 1988; Gold et al., 1996; McClellan et al., 1995). Im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt durch mehrere Tatpersonen wird im Vergleich zu Einzeltatpersonen Folgendes häufiger berichtet: ein früherer Beginn der sexualisierten Gewalt, häufigere Übergriffe, eine längere Dauer der sexualisierten Gewalt, ein häufigerer Einsatz von körperlicher Gewalt, Drohungen und Drogen, sowie intensivere Gewaltformen (Casey & Nurius, 2005; Finkelhor & Williams, 1988; Long & Jackson, 1991).

In einer Analyse der Fälle von organisierter Gewalt, die britischen Jugendschutzbehörden Anfang der 1990er-Jahre gemeldet wurden, haben Gallagher et al. (1996) organisierte Gewalt als selten, aber extrem beschrieben, einschließlich bizarrer oder sadistischer (Sadismus, sadistisch: Empfinden von Lust/Befriedigung durch Demütigung anderer, z.B. durch das Zufügen körperlicher Schmerzen) Praktiken, wie beispielsweise der Zwang, Exkremente essen zu müssen (S. 227). Solche Praktiken im Zusammenhang mit organisierter Gewalt werden als „rituelle Gewalt“ bezeichnet, bei dem Tatpersonen betroffenen Personen auf rituelle oder zeremonielle Weise sexuelle Gewalt zufügen (McFadyen et al., 1993).

Die Aufdeckung von ritueller Gewalt wurde in den 1980er-Jahren erstmals im Rahmen von Jugendschutzuntersuchungen und später von Kindern und Erwachsenen in der Psychotherapie bekannt (Hechler, 1988). Weiterhin wurde rituelle Gewalt bei strafrechtlichen Ermittlungen in Nordamerika (Gyan, 2010; Lemoine, 2008a, 2008b), Großbritannien und Europa (de Bruxelles, 2011; Kelly, 1998), sowie bei afrikanischen und europäischen Kinderhandelsnetzwerken dokumentiert (Internationale Organisation für Migration, 2001). Dennoch wird eine Diskrepanz zwischen den Ansichten psychosozialer Fachpersonen, welche mit Betroffenen arbeiten, und den Ansichten von Wissenschaftler:innen und Journalist:innen, die über solche Fälle berichten, zu diesem Thema deutlich. Psychosoziale Fachpersonen in Großbritannien, den USA und Australien berichteten, dass einige unter ihnen bereits Kontakt mit mindestens einem Klienten oder einer Klientin mit ritueller Gewalterfahrung hatten; die meisten nahmen solche Berichte ernst (Andrews et al., 1995; Bottoms et al., 1996; Schmuttermaier & Veno, 1999). Im Gegensatz dazu wurde die Existenz von ritueller Gewalt durch skeptische Journalist:innen und Wissenschaftler:innen bestritten, welche argumentierten, dass die meisten Vorwürfe ritueller Gewalt das Produkt von „moralischer Panik“, sogenannte „false memories“ („False memory“-Theorie: In der Berichterstattung der 1980er- und 1990er-Jahre vorherrschende, verharmlosende Darstellung sexualisierter Gewalt als Produkt scheinbar „falscher“ Erinnerungen bei den Betroffenen, die durch suggestives Wirken von Psychotherapeut:innen oder anderen Behandelnden hervorgerufen würden, aber tatsächlich falsche Anschuldigungen seien) und „gesellschaftlicher Hysterie“ bezüglich sexuellen Missbrauchs seien (Guilliatt, 1996; Loftus & Ketcham, 1994; Ofshe & Watters, 1996). So wird rituelle Gewalt in der psychologischen Literatur häufig auch als Beispiel für „false memories“ angeführt (Davis & Loftus, 2009; McNally & Geraerts, 2009).

Dass Berichte über rituelle Gewalt auf falscher Wahrnehmung basieren würden, muss mit Blick auf heutige Strafverfolgungen gegen sexuellen Kindesmissbrauch mit rituellen Praktiken überdacht werden. Die psychologische Literatur zu ritueller Gewalt hatte jedoch Mühe, eine zusammenhängende theoretische Erklärung für die Rolle des Rituellen bei organisierter Gewalt zu entwickeln. Goodwins (1994) Kritik, dass der Schwerpunkt solcher Erklärungsansätze eher auf Kulten und perverser Religiosität statt auf Sexualität, Gewalt und Macht liege, ist bis heute relevant.

Der zusammengefasste Artikel stützt sich auf biografische Interviews mit 16 Erwachsenen, die berichten, in ihrer Kindheit ORG erfahren zu haben. Ziel war es, ein theoretisches Erklärungsmodell für rituelle Gewalt zu entwickeln, das auf den Erfahrungen der Betroffenen basiert. Die qualitative Methodik (in der qualitativen Forschung werden meist weniger Fälle untersucht, die dafür aber ausführlicher beschrieben werden, um Einzelheiten für eine interpretative Auswertung und ein tieferes Verständnis zu erhalten. Es werden vor allem offene Fragen gestellt, um viele individuelle Informationen zu sammeln) dient nicht nur einem wichtigen kriminologischen Zweck bei der Dokumentation von Berichten über rituelle Gewalt, sondern bietet auch auf der Theorieebene eine Alternative zu den skeptischen Behauptungen der „false memories“.