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Das Narrativ verändern

Warum also war das „false memories“ Narrativ so lange so einflussreich? Kitzinger (2004) begründet dies einerseits durch eine männliche Tradition im Journalismus. Außerdem sei sexueller Kindesmissbrauch für die (hauptsächlich männlichen) Journalist:innen irgendwann ein sich wiederholendes „langweiliges“ Thema geworden, wohingegen die „false memories“-Geschichte neu und aufregend schien. Weiterhin sollte, wie bereits erwähnt, das politische Klima der 1980er- und 1990er-Jahre berücksichtigt werden. Nach der neoliberalen Grundidee der persönlichen Autonomie galten kindliche Traumata als „Ausrede“ für eine schlechte Lebenslage. Die erwachsene Frau, die von ihrem:ihrer Therapeut:in abhängig ist, stellte einen Gegensatz zum Ideal des unabhängigen Individuums dar.

Es ist kein Zufall, dass sich die „false memories“-Erzählung auf solche sozialen und politischen Tendenzen und Gesinnungen stützt. Die Verfechter:innen von „false memories“ begriffen, dass sie eine Geschichte entwickeln mussten, die im Kontext ihrer Zeit „Sinn“ ergab. Bei komplexen Themen wie Kindesmissbrauch suchen Menschen in diesem „Sinn“ keine Fakten, sondern eine verlässlich und wahrhaftig erscheinende Erzählung (Monbiot, 2017). Die „false memories“-Befürworter:innen verhalfen einer Weltanschauung zu Popularität, die zwar keinen faktischen Informationsgewinn über Kindesmissbrauch lieferte, aber ein neues Verständnis des bereits Bekannten in Bezug auf dieses Thema mitlieferte und auf diese Weise Sinn stiftete. Zweifelsohne war sexueller Kindesmissbrauch ein komplexes Thema, über welches bis in die 1980er-Jahre hinein wenig bekannt war. Die plötzliche Allgegenwart dieses Themas passte nicht in das Verständnis von Wohlwollen und Nächstenliebe, welches den sozialen Pfeilern der Gesellschaft, den Familien, Kirchen und Schulen, zugrunde lag. Dass hauptsächlich Männer als Tatpersonen benannt wurden, wurde zudem als unterschwellige Kritik an Männern per se verstanden. Dies rief eine Abwehrhaltung hervor und führte zur Anschuldigung, Feministinnen würden sich gegen Männer verschwören (Kitzinger, 2004). Die mediale Glaubwürdigkeit wurde zudem durch die Berichte über sexualisierte Gewalt an mehreren Betroffenen durch mehrere Tatpersonen strapaziert (Salter, 2013, 2018). Diese Geschichten störten die gültigen und wahrhaftig scheinenden Erzählungen zur Sinngebung in der Gesellschaft, wie Monbiot (2017) beschreibt. Im Gegensatz boten die „false memories“-Fürsprecher:innen eine Geschichte an, die sich nahtloser anknüpfte, indem die Schwere der berichteten Gewalt als überzogen und die Betroffenen als am „false memories“-Syndrom erkrankt dargestellt wurden. Die „false memories“-Erzählung war also in ein breites Spektrum an Überzeugungen und Prinzipien über individuelle Unabhängigkeit eingebettet und sprach die kollektiven Ängste ihrer Zeit an.

Die wissenschaftliche Datenlage zu „false memories“ war schon immer dürftig: Forschungsergebnisse wurden übertrieben dargestellt, fälschlich angewandt oder ungültig verallgemeinert (Brewin & Andrews, 2017). Dennoch konnte die „false memories“-Erzählung im Angesicht widerlegender Beweise bestehen bleiben. Monbiot (2017) bestätigt, dass Menschen an einer Geschichte festhalten, wenn sie einmal an sie glauben und sie ihnen hilft, ihre Lebenswelt zu verstehen – auch wenn ihnen aufgezeigt wird, dass diese Geschichte nicht wahr ist. Im Gegenteil scheinen Widerlegungsbestrebungen und Gegenbeweise das Festhalten an der Geschichte ungewollt nur weiter zu bestätigen und zu verfestigen. Die Widerlegung allein ist also keine ausreichende Antwort auf das „false memory“-Narrativ. Monbiot (2017) betont, dass wir ausgleichende Geschichten brauchen, in denen die verfügbaren Informationen verschiedener Personen und Perspektiven stimmig und sinnvoll zusammengeführt werden.