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Der Riss im „false memories“ Narrativ

Im Jahr 2002 veröffentliche die US-amerikanische Zeitung Boston Globe eine Artikelserie zu sexuellem Kindesmissbrauch in der Kirche, die zu einer größeren medialen Aufmerksamkeit und großflächigerer Berichterstattung führten als zu Hochzeiten der „false memories“ in den 1990er- Jahren. In direktem Widerspruch zu jenem Narrativ machte die Aufdeckung von sexuellem Kindesmissbrauch in der Kirche das tiefgreifende Desinteresse, die Tatenlosigkeit und die Komplizenschaft der Behörden auf hoher Ebene offensichtlich. Anschließende „Missbrauchsskandale“ benannten hochrangige und prominente Tatpersonen, wie dies auch in der heutigen #MeToo-Debatte der Fall ist. Was also den Riss im Narrativ um „false memories“ – wenn auch nicht dessen Ablösung – bewirkte, waren letztendlich nicht Forschungserkenntnisse, sondern weitere Geschichten. Die weltweite Finanzkrise 2008 stellte außerdem die neoliberale Auffassung des souveränen, unabhängigen Individuums infrage, welches seit jeher im Zentrum der Erzählung um „false memories“ steht. Die Krise offenbarte die katastrophalen Folgen einer solchen Selbstzentriertheit. Das ehemalige Ideal wurde zum Schauplatz erheblicher sozialer Konflikte.

Obwohl zentrale Annahmen und Bestandteile der Erzählung um „false memories“ als widerlegt gelten, bleibt diese Erzählung fest im Journalismus verankert. Trotz des verständnisvolleren Umgangs mit Personen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, wird in den Medien immer noch regelmäßig vor „Panikmache“ und „Hexenjagden“ gewarnt – wie in den 1980er- und 1990er-Jahren. Das Narrativ der „false memories“ wird jedoch zur Vergangenheit erklärt: Die heutige Gesellschaft habe solche Tendenzen zwar schon längst überkommen, müsse sie allerdings als Warnung in Erinnerung behalten (Richardson, 2015). Diese Neuerzählung dient dem Zweck, den Widerspruch zwischen der großen Beliebtheit der „false memories“-Erzählungen damals und den sich häufenden Beweisen für deren Ungültigkeit heute aufzulösen. Dies führt dazu, dass die beiden Erzählungen nun in einem Spannungsverhältnis nebeneinander existieren: Auf der einen Seite die „false memories“- Erzählung, auf der anderen ein erneuertes Verständnis von sexuellem Kindesmissbrauch als weitverbreitet, verdeckt und schädlich.