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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Einleitung

In den 1980er-Jahren begannen Journalist:innen, zunächst in den USA, dann auch in Europa und Australien, ein neues Bild von sexuellem Kindesmissbrauch zu zeichnen. Die mediale Berichterstattung veränderte sich schlagartig von Desinteresse hin zu großflächiger Aufmerksamkeit. Die Medien sprachen von sexuellem Kindesmissbrauch als „unsichtbare Epidemie“ außergewöhnlichen Ausmaßes (Becket, 1996). Nur zehn Jahre später kehrte sich diese Position ins Gegenteil um: Die „unsichtbare Epidemie“ bezog sich nunmehr nicht auf den sexuellen Kindesmissbrauch, sondern auf sogenannte „false memories“. Hiermit werden bei einer Person erzeugte fehlerhafte Erinnerungen an sexualisierte Gewalt bezeichnet, die jedoch nicht wirklich stattfand. Die Ansicht, dass „false memories“ weitverbreitet seien, wurde durch eine kollektive Aufregung und Fehlverhalten von Psychotherapeut:innen und Sozialarbeiter:innen weiter bestärkt (Kitzinger, 2004). Andere psychosoziale Fachpersonen, Betroffene und deren Fürsprechende versuchten, die Fehlinterpretationen und Missverständnisse durch Forschungsergebnisse zu sexualisierter Gewalt, Traumata und Erinnerungsmechanismen aufzuklären – jedoch ohne Erfolg. Befürworter:innen der „false memories“ verstanden sich darauf, die Geschichte von sexuellem Kindesmissbrauch als ein Drama mit Held:innen (den fälschlich Beschuldigten) und Schurk:innen (z.B. Therapeut:innen, Feminist:innen) zu erzählen. Es findet so ein Kampf des Guten (der Wissenschaft, Vernunft und Rationalität) gegen das Finstere (das Dogma, die Fantasie) statt. Die präzisen, sachlichen Informationen der Personen, die die „false memory“-Theorie skeptischer sehen, besitzen nicht dieselbe emotionale Anziehungskraft. Infolgedessen prägen „false memories“ als führender Standpunkt noch immer die Massenmedien und das öffentliche Verständnis von sexuellem Kindesmissbrauch.

George Monbiot betont, dass Erzählungen oder Narrative eine Rasterfunktion haben. Mithilfe von Erzählungen organisieren Menschen Informationen und verleihen ihnen so Sinn und Ordnung. Wenn eine irreführende Erzählung verändert werden soll, dann sei es ein Fehler, sich auf Daten und Fakten zu verlassen: „Nur eine Geschichte kann eine Geschichte ersetzen“ (Monbiot, 2017: S. 3). Es muss also ein bedeutsames Alternativkonzept angeboten werden, das alle bekannten Informationen sinnvoll einordnet, selbst wenn sie sich widersprechen.

Der Autor sieht die Möglichkeit für eine solche Neuerzählung der Geschichte um sexualisierte Gewalt und Traumata. Unter anderem durch die Offenlegung von weitverbreitetem sexuellen Kindesmissbrauch in kirchlichen und anderen Institutionen hat das Narrativ um „false memories“ bereits eine Destabilisierung erfahren. Als Beschreibung der komplexen Schäden menschlicher Beziehungen und der stärkenden Wirkung von Fürsorge und Unterstützung wird gleichzeitig das Konzept des Traumas zunehmend wichtiger – sozial, politisch und psychologisch. Aber auch das Interesse an Traumata wird in der Öffentlichkeit und bei Fachpersonen gesteigert. Insgesamt bietet ein lösungsorientiertes Neuerzählen von „Trauma“ eine echte Alternative zur entfremdenden und zynischen „false memory“-Erzählung.