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Konservatismus, Neoliberalismus und die Geschichte der „false memories“

Einrichtungen für die psychische Versorgung und den Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie Strafverfolgungsbehörden sahen sich in den 1980er-Jahren mit einer bisher beispiellosen Anzahl sexueller Gewaltfälle konfrontiert. Dennoch wurde durch ein Bündnis konservativer und neoliberaler Kräfte [Anm.: in den USA] auf politischer Ebene eine Kürzung der Budgets entsprechender sozialer Einrichtungen bewirkt (Campbell, 2018). Beide politische Lager verband die Ablehnung einer staatlichen Einmischung in die Privatsphäre, die sie wiederherzustellen suchten. Der Cleveland-Fall illustriert diese Auswirkungen und die Art, wie sie ineinandergreifen, beispielhaft:

In den 1980er-Jahren wurden in Cleveland im Nordosten Englands eine große Anzahl von Kindern wegen des Verdachts auf sexuellen Kindesmissbrauch von ihren Familien getrennt. Inmitten einer durch Budgetkürzungen verursachten Krise erlebten das örtliche Kinderkrankenhaus und andere Einrichtungen einen großen Zustrom gefährdeter Kinder. Das unvermeidbare systemische Versagen wurde jedoch den einzelnen Fachkräften angelastet. Trotz aussagekräftiger Beweise, dass die Kinder tatsächlich sexualisierte Gewalt erlebt haben, ist der Cleveland-Fall weithin als Beispiel für „false memories“, die durch das Fehlverhalten der Fachpersonen angeregt wurden, in Erinnerung geblieben (Campbell, 2018; Donaldson & O’Brien, 1995).

Im Zuge des Anstiegs der Fallzahlen ließ sich dieses Muster in den 1980er-Jahren im gesamten globalen Norden beobachten. Einige vieldiskutierte Fälle enthielten Anschuldigungen mehrerer Betroffener gegen mehrere Tatpersonen sowie Beschreibungen sadistischer und ritueller Gewalt und den Vorwurf der Herstellung von sogenannten Missbrauchsabbildungen (Salter, 2013). Da es an Fachkenntnis, Personal und Richtlinien fehlte, stellten die komplexen Fälle eine Herausforderung in der Zusammenarbeit zwischen Jugendschutz und Justizvollzug dar. Außerdem zeigten sie die Hürden des Strafrechtssystems für junge und traumatisierte Betroffene auf, beispielsweise durch belastende Kreuzverhöre oder indem Kinder gezwungen waren, den Beschuldigten bei gerichtlichen Befragungen zu begegnen. Die Schwierigkeiten bei der Aufklärung solcher Fälle wurden medial weiterhin als Beweis für eine Flut falscher Vorwürfe dargestellt (Cheit, 2014; Salter, 2018).

Der Fokus der Medien auf „falsche Erinnerungen“ an sexualisierte Gewalt verstärkte sich in den 1990er-Jahren weiter. Gesetzliche Änderungen in den USA erlaubten es Erwachsenen, die als Kind sexualisierte Gewalt erlebt hatten, rückwirkend Anklage gegen die Tatpersonen zu erheben. Als Reaktion vereinigten sich Beschuldigte unter dem Banner des „false memories“-Syndroms in einer Gegenbewegung (Brown et al., 1998), zu deren lautesten Befürworter:innen Journalist:innen zählten (Kitzinger, 2004). Ergreifende Darstellungen von Therapeut:innen, die glückliche Familien auseinanderrissen, indem sie Klient:innen dazu manipulierten, sich an einen nie geschehenen Inzest zu erinnern, erwiesen sich als außerordentlich medienwirksam. Demnach wurden nicht etwa die Gewalt ausübenden Tatpersonen, sondern Therapeut:innen und im Jugendschutz Tätige als Gefahr und zudem als obsessiv, inkompetent und pervers auf sexualisierte Gewalt fokussiert dargestellt.

Campbell (2003) führt das „false memories“-Narrativ auf ein Grundprinzip des Liberalismus zurück: den Gegensatz zwischen dem Ideal des rationalen, eigenständigen Individuums einerseits und der minderwertigen, abhängigen, in ihrem Denken unselbstständigen Person andererseits. Unter „false memories“-Befürworter:innen galten verlässliche, „wahre“ Erinnerungen als präzise, rein geistig und beständig. Insbesondere mussten sie isoliert vom Einwirken anderer für die Person abrufbar sein. Erinnerungen, die hiervon abwichen, galten als nicht vertrauenswürdig. Insbesondere lückenhafte, körperliche, stark emotionale Erinnerungen, die erst durch ein Ereignis oder eine Person ausgelöst zugänglich wurden, galten demnach als „falsch“. Diese Gegensätze von wahr und falsch, rational undemotional, unabhängig und abhängig wurden stark auf die Geschlechter übertragen. Dies diente dem Zweck, Frauen, die psychische Hilfe suchten, als einfach manipulierbar darzustellen. Sie seien unfähig, Dinge rational zu bewerten und eigenständig zu denken (Gaarder, 2000).

Besonders in den 1990er-Jahren wurden diese Gegensätze betont: Im Neoliberalismus, der an Einfluss gewann, wurde die individuelle Eigenständigkeit wertgeschätzt, während der Abhängigkeit von anderen etwas Krankhaftes zugeschrieben wurde. Vertreter:innen des bürgerlichen und des sexuellen Liberalismus warfen dem Staat und den Befürworter:innen von Betroffenen vor, das Problem übertrieben darzustellen, und so wurde das „false memories“-Narrativ zur weltweit dominanten Erzählung über sexuellen Kindesmissbrauch (Beckett, 1996; Kitzinger, 2004). Die Fehlwahrnehmung in den Medien reichte sogar so weit, dass sie sich auf die öffentliche Fallaufzeichnung niederschlug. Beispielsweise eröffneten die laxen gesetzlichen Regulierungen im Bereich öffentlicher Einrichtungen, wie Kindertagesstätten, Tatpersonen einfache Möglichkeiten, an Kinder heranzukommen. Indizien, wonach einzelne Einrichtungen nur zum Zweck der Ausübung von sexualisierter Gewalt entstanden, wurden in den Medien systematisch unterdrückt und als soziale Panikmache abgetan (Cheit, 2014). Auch dieses Narrativ hält sich bis heute.

Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, der Wissenschaft sowie Fürsprecher:innen von Betroffenen versuchten durch strategische Nachforschungen das entstandene Bild zu korrigieren. Die Forschungsergebnisse zu Gedächtnisverlust, Dissoziation (Dissoziation: Verlust des ganzheitlichen Zusammenhangs der Wahrnehmung, von Erinnerung, Identitätsbewusstsein, Empfindung und Körperbewegung) und Trauma bildeten in den 1990er-Jahren die Basis für eine wissenschaftlich fundierte Behandlung komplexer Traumata (Brown et al., 1998). Fehler der Untersuchungen zu „false memories“ (z.B. Pope, 1996) und die Darstellung schwerwiegender Fälle sexualisierter Gewalt in den Medien (z.B. Sinason, 1994) wurden durch Forscher:innen und klinische Fachpersonen kritisch beleuchtet. Die Beweise für Übertreibungen, Verallgemeinerungen und Widersprüche des „false memories“-Narrativs häuften sich – wurden in der öffentlichen Berichterstattung jedoch weiterhin zum Großteil ignoriert. Im Gegenteil: Befürworter:innen von „false memories“ erhielten umfangreiche berufliche und mediale Plattformen. In Erwartung einer starken öffentlichen Gegenreaktion drückten Forscher:innen und gesundheitliche Fachpersonen ihre Angst aus, sich gegen das „false memories“-Narrativ zu stellen.