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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Ergebnisse

Wie häufig kommt organisierte Gewalt vor?

Es ist schwierig, die Prävalenz jeglicher Form sexualisierter Gewalt zu ermitteln. Generell wird davon ausgegangen, dass die gemeldeten Fälle nur einen Bruchteil darstellen und die Gesamtheit tatsächlicher Fälle nicht abbilden (Bromfield & Higgins, 2003). Zudem variieren die Ergebnisse von Prävalenzstudien je nach Methode der Gewinnung von Teilnehmenden, dem Geschlecht der Teilnehmenden, der Analyse-Methodik der Studie und der Definition von sexualisierter Gewalt (Goldman & Padayachi, 2000; Wynkoop et al., 1995). Diese methodischen Schwierigkeiten der Forschung zu sexualisierter Gewalt verkomplizieren sich bei organisierter Gewalt noch weiter, zum Beispiel durch einen oft früheren Beginn und eine längere Dauer der Gewalt, Drohungen oder bestehende Abhängigkeitsverhältnisse zu Tatpersonen (Briere & Conte, 1993; Loewenstein, 1996; Schultz et al., 2003).

Bevölkerungsumfragen lieferten unterschiedliche Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch: Zwischen 3% und 12% der erwachsenen Männer und zwischen 10% und 20% der Frauen in Australien, Neuseeland und den USA berichteten von sexuellen Berührungen, Kontakten oder Nötigungen in der Kindheit (de Visser et al., 2003; Fanslow et al., 2007; Laumann et al., 1994). Aus solchen Umfragen kann zwar nicht direkt ermittelt werden, wie viele der Befragten organisierte Gewalt erlebt haben, aber es lassen sich dennoch Hinweise auf bestimmte Muster erkennen: Sexualisierte Gewalt durch mehrere Personen in der Kindheit, durch Männer und Frauen sowie mit Beginn vor dem 6. Lebensjahr scheinen charakteristisch für organisierte Gewalt zu sein (Alfred et al., 1999; Dickenson et al., 1999; Leserman et al., 1997). Zwischen 5% und 10% der Frauen berichten in einigen Studien von sexualisierter Gewalt durch mehrere Personen (Kendler et al., 2000; Long & Jackson, 1991); sexualisierte Gewalt durch Frauen und Männer kann auf organisierte Gewalt hindeuten, da Täterinnen die Gewalt häufig mit einem oder mehreren Tätern zusammen ausüben (Grayston & De Luca, 1999; Faller, 1995; Vandiver, 2006).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwischen 10% und 20% der Frauen und zwischen 3% und 12% der Männer sexualisierte Gewalt im Kindesalter berichten. Von denjenigen, die sexualisierte Gewalt angaben, berichteten 2% der Frauen und 5% der Männer über Gewalt durch Männer und Frauen. Berichte über sexualisierte Gewalt vor dem 6. Lebensjahr und durch mehrere Tatpersonen, wurden insbesondere von Frauen, die wegen sexualisierter Gewalt behandelt wurden, sowie von obdachlosen und inhaftierten Frauen gemeldet. In klinischen Settings, z.B. in stationärer Psychotherapie, berichteten bis zu einem Fünftel der betroffenen Frauen und Kinder organisierte Gewaltmerkmale, wenn spezifisch nachgefragt wurde. Die Mehrheit der vorliegenden Prävalenzstudien oder klinischen Studien enthielt solche spezifischen Fragen zu organisierten Strukturen jedoch nicht (Briere, 1988; Finkelhor & Williams, 1988; Gold et al., 1996; McClellan et al., 1995).

Bewusstsein um das Problem organisierter Gewalt

Ein Großteil der verfügbaren Literatur zu organisierter Gewalt konzentriert sich auf rituelle Gewalt – wahrscheinlich wegen der kontroversen Debatten um rituelle Gewalt und weil Klient:innen mit solchen Missbrauchserfahrungen schwerste traumatische und dissoziative (Dissoziative Störungen: Psychisches Störungscluster, gekennzeichnet durch eine Desintegration der Prozesse des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Emotion, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation, der motorischen Kontrolle und des Verhaltens; Brand et al., 2010) Symptome aufweisen (Fraser, 1997). Fachpersonen in Kliniken für dissoziative Störungen treffen besonders häufig auf Betroffene mit organisierten Gewalterfahrungen: Hier berichteten zwischen 4% und 8% der Klient:innen über rituelle Gewalt in der Vorgeschichte (Coons, 1994; Putnam, 1997), weitere 11% über Missbrauch durch „pädophile Ringe“ ”(Middleton & Butler, 1998).

Einige Forscher:innen aus Großbritannien versuchten über die Anzahl der gemeldeten Fälle bei der Polizei und den Jugendschutzbehörden genauere Zahlen zu organisierter Gewalt zu ermitteln. Dabei fanden sie heraus, dass in den 1980er-Jahren über einen Zeitraum von zwei Jahren sechs „Sex- Ringe“ mit mehreren kindlichen Betroffenen und mehreren Tatpersonen bei der Polizei gemeldet worden waren (Wild, 1989). Eine weitere Umfrage unter 71 Jugendschutzteams in Großbritannien ergab, dass 41% der Behörden zwischen 1989 und 1991 von mindestens einem Fall von organisierter Gewalt wussten; 20% der Teams gaben außerdem an, mit Kindern zu arbeiten, bei denen der Verdacht auf organisierte Gewalt bestand (Creighton, 1993). Auch wenn in vielen Umfragen nicht explizit der Begriff „organisierte Gewalt“ verwendet wurde, weisen in der Summe viele Faktoren in unterschiedlichen Studien auf organisierte Strukturen hin.

Psychische Bedürfnisse von Menschen, die organisierter Gewalt ausgesetzt waren

Sexueller Missbrauch in der Kindheit ist mit einer Reihe von psychischen, körperlichen und sexuellen Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter verbunden (Maniglio, 2009), wobei sich nicht bei allen Betroffenen solche Langzeiteffekte einstellen (Rind et al., 1998). Die Auswirkungen der sexuellen Gewalt auf die Betroffenen hängen mit Faktoren wie dem familiären und sozialen Umfeld des Kindes, der Beziehung zu Tatpersonen (Briere & Elliott, 1993) sowie bestimmten Merkmalen der Gewalttaten an sich zusammen. Faktoren, die allerdings mit schweren Langzeitfolgen für Betroffene verbunden sind, sind auch häufig die Merkmale organisierter Gewalt (Gallagher et al., 1996) – etwa Gewalt durch mehrere Tatpersonen, häufigere Übergriffe, eine längere Dauer der Gewalt, Tatpersonen aus der Familie sowie, zusätzlich zur sexualisierten Gewalt, körperliche Gewalt, Drohungen oder die Verabreichung von Drogen (Briere & Runtz, 1988; Casey & Nurius, 2005; Dube et al., 2005). Insbesondere sind diese Merkmale mit komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen sowie dissoziativen Störungen verbunden. So wurde in Fällen von organisierter Gewalt berichtet, dass solche Störungen absichtlich durch Tatpersonengruppen verursacht werden können, um die Aufdeckung ihrer Taten zu verhindern (Epstein et al., 2011; Miller, 2012; Sachs & Galton, 2008).

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Betroffene aus Kontexten organisierter Gewalt schwere Traumafolgestörungen entwickeln (Ross, 1995; Noblitt & Perskin, 2000; Sachs & Galton, 2008). Erwachsene mit nicht diagnostizierter oder unbehandelter dissoziativer Störung weisen eine hohe Suizidrate auf (Kluft, 1995). Ross (1997) stellte jedoch fest, dass sich das Suizidrisiko verringern kann, sobald eine psychologische Betreuung besteht. Eine psychologische Behandlung von Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung ist weiterhin notwendig, um ihre Gefährdung für anhaltende körperliche und sexualisierte Gewalt aufzufangen. Vor allem sind die Schwere und Häufigkeit der sexualisierten Gewalt mit der Schwere von psychosozialen Beeinträchtigungen verbunden (Zanarini et al., 2002). Doch aufgrund von fehlenden spezialisierten Hilfsangeboten für Betroffene von organisierter Gewalt stellen sich Betroffene letztlich bei Anlaufstellen vor, die nicht auf ihre akuten Bedürfnisse abgestimmt sind, wie z.B. Sozialdienste oder Anlaufstellen für häusliche Gewalt (Cooper, 2004; Courtney & Williams, 1995).