Bedeutung eines Strafverfahrens für betroffene Personen
Generell befinden sich Betroffene von Gewaltdelikten während des Strafverfahrens gegen Tatpersonen in einer prozessualen Doppelrolle:
Sie können als Nebenklagende aktiv am Verfahren teilnehmen, Beweisanträge stellen und Rechtsmittel einlegen. Das kann teilweise mit staatlich finanzierter anwaltlicher Vertretung im Wege der sogenannten Beiordnung geschehen. Beiordnung bedeutet, dass einer für finanziell bedürftig erachteten Prozesspartei eine anwaltliche Vertretung zugewiesen wird.
Gleichzeitig haben Betroffene als sogenannte Opferzeug:innen praktisch immer eine zentrale Rolle in der Beweisführung. Mit ihrer Aussage steht und fällt das Verfahren oft. Vor diesem Hintergrund prüfen und befragen alle Verfahrensbeteiligte die betroffenen Personen intensiv. Dies geschieht zum Beispiel auch im Rahmen aussagepsychologischer Gutachten.
Die eingesetzten Gutachter:innen unterstützen Gerichte und Staatsanwaltschaften bei der Bewertung von Aussagen der Opferzeug:innen – üblicherweise vor allem dann, wenn keine oder kaum Beweise vorliegen. Sie geben eine Einschätzung, ob die Aussage auf tatsächlich Erlebtem basiert. Die Gutachter:innen sind dazu verpflichtet, als Grundthese von der Unwahrheit der Aussage der Opferzeug:innen auszugehen und darauf aufbauend Alternativhypothesen zu prüfen. Dies führt dazu, dass Betroffene es oft als äußerst belastend erleben, wenn ihre Schilderungen hinterfragt werden und sie die erlebte Gewalt beweisen müssen. Eine derartige Erfahrung kann bewirken, dass die oben beschriebenen Botschaften der Tatpersonen („Du spinnst nur“; „Niemand wird Dir glauben“) getriggert werden. Schlimmstenfalls werden Betroffene dadurch neu traumatisiert. Eine Aussage für sich reicht nur selten für eine Verurteilung aus, da in unserem Rechtssystem der Grundsatz „in dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten) gilt. Das ist besonders für traumatisierte und vulnerable Betroffene schwerer Gewalttaten eine große Herausforderung und erschwert in solchen Fällen effektive Strafverfolgung.
Angesichts der enormen Belastung, die ein Strafverfahren für Betroffene mit sich bringen kann, ist die Entscheidung für eine Strafanzeige daher gut abzuwägen. Oft ist es sinnvoll, neben den Erfolgsaussichten in einem möglichen Strafverfahren auch weitere Aspekte einzubeziehen. Eine Strafanzeige kann beispielsweise ein Signal für die Tatpersonen sein, dass die betroffene Person so etwas nicht mehr mit sich machen lässt. So kann sie das Selbstbewusstsein der Betroffenen stärken. Auf der anderen Seite kann eine Strafanzeige auch zu einer Destabilisierung beitragen und den Ausstieg erschweren, weil zum Beispiel mögliche Programmierungen ausgelöst werden. Es ist gut, wenn Betroffene die Vor- und Nachteile sensibel abwägen, bevor sie das Erlebte bei der Polizei anzeigen. Im Idealfall lassen sie sich von Beginn an professionell begleiten und beraten, zum Beispiel durch psychosoziale Prozessbegleiter:innen oder juristische Fachkräfte.