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Kostenlose Beratung bei organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Professionelle psychosoziale Beratung von Menschen im Kontext von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt

Eine gut informierte, professionelle psychosoziale Beratung kann für Personen, die sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen erlebt haben, sehr hilfreich sein. Der folgende Text beschreibt mögliche Ziele und Herausforderungen einer solchen Beratung ‒ basierend auf Erfahrungswerten aus der Beratungspraxis. Er soll Berater:innen informieren und ermutigen, sich dem Thema zu nähern und Betroffene von entsprechenden Gewalterfahrungen zu begleiten.

Ausstiegsbegleitung

Viele Betroffene berichten von Konditionierungen und Programmierungen durch die Tatpersonen, welche sie lang andauernd und schwer beeinträchtigt. Dies sollte in einer Beratung beachtet werden. So nützen zum Beispiel ein Umzug, eine Auskunftssperre und eine Namensänderung am Ende mitunter wenig, solange es noch Persönlichkeitsanteile gibt, die beispielsweise aus Angst, einem Zugehörigkeitsgefühl zur Tatpersonengruppe oder durch ein antrainiertes Programm den Tatpersonen Bericht erstatten (müssen). Diese Verhaltensweisen aufzulösen und eigene Entscheidungen treffen zu lernen – das ist für Betroffene ein wesentlicher Teil des „inneren Ausstiegs“. Dazu gehört auch herauszufinden, wer man ohne die Tatpersonengruppe ist oder sein könnte und wie sich ein Leben frei von Gewalt anfühlen würde.

Ein Ausstieg aus Strukturen organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt gelingt Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstruktur am ehesten, wenn sich möglichst viele Persönlichkeitsanteile aktiv dafür entscheiden, im Innen wie im Außen daran mitzuwirken oder den Ausstieg zumindest mitzutragen und zu tolerieren. Diesen inneren Entscheidungsprozess zu begleiten ist herausfordernd, weil es in dieser Zeit immer wieder zu erneuter Gewalt kommen kann. Zur Ausstiegsbegleitung gehört, gemeinsam mit den Klient:innen die Gefahren realistisch einschätzen zu lernen, Schritt für Schritt mehr äußeren und inneren Schutz aufzubauen und ein verlässliches Netzwerk an helfenden Personen zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Wenn die Phase des akuten Ausstiegs geschafft ist, kann es trotzdem noch zu Krisen und Rückschlägen kommen – zum Beispiel, wenn Betroffene realisieren, dass bestimmte Persönlichkeitsanteile doch am Bewusstsein der Alltagsperson vorbei Kontakt zur Tatpersonengruppe haben.

Zum Ausstieg gehören meist auch schwerwiegende Entscheidungen. In vielen Fällen müssen Betroffene den Kontakt zur Familie abbrechen, wenn diese ebenfalls in die Tatpersonengruppe involviert ist. Besonders schwer kann dabei der mitunter notwendige Kontaktabbruch zu eigenen Kindern sein. Auch Partner:innen können zum Tatpersonenkreis gehören. Manchmal ist es für Betroffene wie Berater:innen schwer zu unterscheiden, wer zur Tatpersonengruppe gehört und wer als sicherer Kontakt eingestuft werden kann. Zudem berichten viele Betroffene, dass manche Tatpersonengruppen auch unauffällig Freund:innen und Bekannte von Betroffenen ausfragen und auf diesem Wege Informationen generieren. Hilfreich für den Ausstieg ist es daher, wenn möglichst viele Persönlichkeitsanteile ihr Wissen zur Verfügung stellen, da die Alltagspersonen insbesondere zu Beginn des Ausstiegs nicht umfassend auf alle Informationen zugreifen können.

Der innere wie äußere Ausstieg aus organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt verlangt Betroffenen sehr viel ab. Diese enorme Lebensleistung von Aussteiger:innen wird in unserer Gesellschaft selten anerkannt. Umso wichtiger ist es, dies in der Beratung zu tun und den Klient:innen mit großer Wertschätzung zu begegnen.

Wie geht man damit um, wenn von Straftaten berichtet wird?

Menschen, die von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt betroffen sind, berichten in der Beratung nicht selten von konkreten Straftaten. Ob und wie Tatpersonen strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden können und was dabei auf Betroffene selbst zukommen kann, sind Fragen, die in der Beratung manchmal auftauchen. Diese Fragen sind im Kern juristischer Art und gehören letztlich in eine gute rechtliche Beratung durch juristische Fachkräfte. Das heißt konkret: Wenn Klient:innen im Verlauf der psychosozialen Beratung den Wunsch äußern, Strafanzeige zu erstatten, sollte eine zusätzliche Beratung durch eine juristische Fachkraft vermittelt werden. Viele (Fach-)Beratungsstellen sind gut vernetzt, kennen erfahrene juristische Fachkräfte und können Klient:innen bei der Kontaktaufnahme unterstützen. Zudem bieten viele (Fach-)Beratungsstellen psychosoziale Prozessbegleitung an. Die jeweiligen Kolleg:innen kennen sich unter anderem sehr gut aus mit den Themen Strafanzeige, Strafverfahren und Glaubhaftigkeitsbegutachtungen und können hier wertvolle Informationen zum Ablauf geben und an juristische Fachkräfte verweisen.

Teilweise wird im Laufe der Beratung deutlich, dass Klient:innen beziehungsweise bestimmte Persönlichkeitsanteile noch Gewalt erleben oder selbst Gewalt gegenüber anderen Personen ausüben. Fragen zu Ausstiegsbegleitung, Schutz sowie rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen sind dann oftmals ein wesentlicher Teil der Beratung. Erfahren Berater:innen von konkret geplanten Straftaten ‒ sprich Straftaten, die in der Zukunft liegen ‒, kann es sogenannte Offenbarungsbefugnisse oder sogar Offenbarungspflichten geben. Das hängt unter anderem davon ab, was für eine Straftat angekündigt wird und wie konkret die Hinweise darauf sind. Es ist daher grundlegend zu empfehlen, sich als Berater:in rechtlich darüber zu informieren und entsprechend vorbereitet zu sein. Sollte sich im Verlauf der Beratung abzeichnen, dass Straftaten ein Thema werden könnten, sind die rechtlich gesetzten Rahmenbedingungen, wenn möglich im Vorhinein und nicht erst beim Auftreten einer solchen Situation, transparent mit den Betroffenen zu besprechen.

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    Stehen der Schutz von Kindern und der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung im Raum, ist dies in besonderer Weise herausfordernd für Berater:innen. Zuständig dafür, eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden und entsprechende Maßnahmen zu veranlassen, ist letztlich das Jugendamt. Das Jugendamt kann dies in vielen Fällen nicht alleine, sondern ist gerade bei komplexen Situationen auf Informationen professioneller Helfer:innen angewiesen, die entsprechende Entscheidungen zum Wohl der betroffenen Kinder bekräftigen.

    Eine Strafanzeige bei der Polizei dient nicht in erster Linie dem Schutz der Kinder, sondern hat das Ziel, eine Straftat zu ahnden und Tatpersonen rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Liegen sichere Beweise vor (wie zum Beispiel eindeutige Fotos oder Filme von Missbrauchshandlungen), kann eine Strafanzeige potenziell den Schutz betroffener Kinder herstellen. Ist dies nicht der Fall, kann sich eine Strafanzeige auch negativ auf die Situation betroffener Kinder auswirken: Die Tatpersonen werden durch das Ermittlungsverfahren gewarnt, das Verfahren wird unter Umständen aus Mangel an Beweisen eingestellt, und der Geheimhaltungsdruck auf die Kinder erhöht sich.

    Vielen Berichten von Betroffenen zufolge sind Tatpersonen häufig angesehene oder unauffällige Mitglieder unserer Gesellschaft: gut vernetzt und mit verschiedensten Strategien, um ihre Gewalttaten verdeckt zu halten: Sie setzen betroffene Kinder zum Beispiel unter Druck und „trainieren“ sie mitunter auch, nichts nach draußen dringen zu lassen. Manchmal führt auch eine dissoziative Identitätsstruktur dazu, dass das „Alltagskind“ tatsächlich nichts weiß. Insgesamt ist es wichtig, nicht überstürzt zu handeln. Eine Strafanzeige gegen den Willen der Betroffenen kann bei Erwachsenen wie auch Kindern und Jugendlichen das Vertrauen zerstören und den Kontakt zu Persönlichkeitsanteilen, die etwas über die Gewalt wissen, für lange Zeit unmöglich machen. Sorgfältiges Überlegen der nächsten Schritte, möglichst mit Unterstützung durch eine spezialisierte Fachberatungsstelle oder erfahrene Supervisor:innen, ist zu empfehlen.

Wie wollen Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstruktur angesprochen werden?

Viele Berater:innen sind unsicher, wie sie Personen mit dissoziativer Identitätsstruktur ansprechen sollten. Hier gibt es kein einheitliches Vorgehen. Eine gute Strategie ist, die betroffene Person beziehungsweise die jeweiligen Persönlichkeitsanteile selbst danach zu fragen. Einige Betroffene sprechen von sich aus im „Wir“. Andere sind noch auf der Suche, ob die dissoziative Identitätsstruktur eine passende Erklärung für ihr Erleben ist. Hier passt das Ihr/Wir vielleicht nicht. Und wiederum andere haben entschieden, gar nicht über sich im Plural zu sprechen oder sich nur in sehr vertrauten zwischenmenschlichen Kontakten als „Viele“ zu offenbaren. Da es in unserer Gesellschaft bezüglich der Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung noch immer viel Unsicherheit, Abwehr und Diskriminierung gibt, ist diese Vorsicht sehr nachvollziehbar und sollte respektiert werden. Die Erfahrung zeigt: Manchen Persönlichkeitsanteilen ist es wichtig, erkannt und mit ihrem eigenen Namen angesprochen zu werden. Für andere geht das erst, wenn genug Vertrauen da ist. Viele Betroffene berichten zudem, dass einige Namen mit Tatpersonen verbunden beziehungsweise von diesen bestimmt wurden. Hier ist besondere Vorsicht und Absprache geboten. Manche Klient:innen lehnen es gänzlich ab, die Namen der einzelnen Persönlichkeitsanteile mitzuteilen. Auch das ist nachvollziehbar und zu respektieren.

Grundsätzlich kommt es darauf an, miteinander eine passende Beziehungsgestaltung zu finden und offen dafür zu sein, dass sich diese im Verlauf der Beratung verändern kann. So kommt es beispielsweise vor, dass Klient:innen zu Beginn der Beratung im „Viele-Sein“ gesehen werden wollen, sich dieses Bedürfnis aber im Laufe der Zeit verändert. Auch wenn das neue Bedürfnis möglicherweise mit weniger Offenheit einhergeht, ist es auch ein Zeichen vertrauensvoller Beziehungsarbeit, wenn Klient:innen sich mitteilen und eigene Wünsche äußern.

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    Die Beziehungsgestaltung mit Menschen, die eine dissoziative Identitätsstruktur haben, kann herausfordernd sein und je nach Persönlichkeitsanteil auch variieren. Ein kindlicher Anteil im Entwicklungsalter von 4 Jahren braucht eine andere Ansprache und einen anderen Umgang als eine Alltagspersönlichkeit im Alter von 30 Jahren oder ein Anteil, der bisher vor allem die Weltsicht der Tatpersonen kennengelernt hat. Sie alle waren zum Überleben wichtig und gehören dazu. Daher sollten Berater:innen jedem Persönlichkeitsanteil, den sie kennenlernen dürfen, individuell begegnen und sich gleichzeitig bewusst machen, dass es viele weitere Anteile und auch ein „großes Ganzes“ gibt. Fachliche Erfahrung, menschliche Intuition, Offenheit und Mut können dabei hilfreich sein. Vor allem kommt es darauf an, miteinander im Prozess zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass gemeinsam Lösungen für schwierige Situationen gefunden werden können. Es muss und kann nicht alles gelingen. Wichtig ist, authentisch und ehrlich zu sein, über Schwierigkeiten offen zu sprechen und gemeinsam nach hilfreich(er)en Wegen zu suchen.

Wie spricht man mit Betroffenen im Hinblick auf mögliche Trigger?

Bei Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstruktur gibt es eine Vielzahl verschiedener innerer und äußerer Trigger für dissoziative Symptome, Flashbacks und unkontrollierte Switches (Wechsel zwischen Persönlichkeitsanteilen). Es kann für die Beratung sinnvoll und auch notwendig sein, zu wissen oder gemeinsam mit den Klient:innen herauszufinden, was sie triggert. Die Trigger sind sehr unterschiedlich. Es können zum Beispiel bestimmte Worte, Geräusche, Gerüche oder laute Sprache sein. Manche Betroffene reagieren auch auf bestimmte Gesten oder einen Gegenstand im Beratungsraum, eine bestimmte Übung, zu schnelles Erinnern oder Forschen nach anderen Persönlichkeitsanteilen. Ein fachkundiger Umgang mit solchen typischen Reaktionen auf Trigger ist hilfreich für eine erfolgreiche Beratung. Beispielsweise sollten Berater:innen mit ihren Klient:innen besprechen, was ihnen in solchen Situationen hilft oder nicht hilft, beziehungsweise in diesem Zustand sogar schadet und ihn verschlimmert. Manchmal ist es nach Berichten von Berater:innen notwendig, gezielt in das System der Teilpersönlichkeiten zu sprechen und einen Persönlichkeitsanteil „nach draußen“ zu holen, der im Alltag orientiert ist. Dies setzt in der Regel ein tragfähiges Vertrauensverhältnis voraus und sollte vorab abgesprochen und klar vereinbart werden.

Weiterführende Informationen

Für eine Vertiefung der wichtigsten Aspekte einer Beratung von Menschen im Kontext von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt verweisen wir auf die Broschüre „Organisierte und Rituelle Gewalt. Unterstützung für Betroffene. Eine Einführung für psychosoziale Fachkräfte“ (VIELFALT e.V. 2020). Das Material enthält Erfahrungen aus 25 Jahren Beratung im Kontext von organisierter und ritueller Gewalt und ist auf der Website von VIELFALT e.V. zu finden.

„Wir haben in vielen Begegnungen und Beratungen Momente von Wachstum und Stärke miterleben dürfen, Schweres gemeinsam getragen und Berührendes erlebt. […] Wenn man Betroffene fragt, was ihnen am meisten geholfen hat, so sind es oft unterstützende Beziehungen. Menschen, die dageblieben sind und mitgetragen haben – manchmal über einen langen Zeitraum. Unterstützungsnetzwerke, die vielfältige Hilfe geben konnten. Aber auch die kleinen Momente und Begegnungen, die in Erinnerung blieben und Hoffnung gaben auf ein besseres Leben.“

Aus dem Vorwort der Broschüre

Außerdem möchten wir an dieser Stelle auf den Ausstiegs-Leitfaden SUPPORT verweisen. N.I.N.A. e. V. hat ihn mit dem Ziel herausgegeben, vor allem psychosoziale Fachkräfte zu unterstützen, die mit Betroffenen arbeiten. Aus der Praxis für die Praxis.